Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
Krankheitsverlauf von Berühmtheiten wie Rock Hudson oder Liberace eine Sensation war. Wilde Gerüchte kursierten, die Krankheit stamme von haitianischen Schweinen oder zentralafrikanischen Affen, mit denen katastrophal abenteuerlustige amerikanische Touristen unkonventionelle Intimität genossen hätten. Die amerikanische Zeitung ›Globe‹ vertrat ernsthaft die These, Aids gehöre zum Fluch des Tut-ench-Amun, das Virus sei 1922 freigesetzt worden, als sein Grabmal geöffnet wurde, und habe Amerika erreicht, als in den siebziger Jahren dort eine Wanderausstellung gezeigt wurde.
Trotz all ihrer Monstrosität kann keine dieser Theorien mit der entsetzlichen Verbreitung Schritt halten, die diese Krankheit in der westlichen Welt fand. In Britannien und im Ausland sind viele Christen der Ansicht, Aids sei eine Heimsuchung Gottes, herabgesandt zur Bestrafung all jener, deren Lebensweise dem Allmächtigen verwerflich vorkommt. Das ist eine der bedenklichsten und verstörendsten Ideen einer für ihre Sturköpfigkeit und mangelnde Vernunftbereitschaft sattsam bekannten Spezies, die ich je gehört habe. Wir sollen uns also ein Höheres Wesen vorstellen, das jahrhundertelang auf die Erde herabgeblickt hat und tagtäglich Zeuge von Grausamkeit, Laster, Gewalt, Tyrannei und gnadenlosem Haß wurde, ohne je dagegen auch nur einen Finger krumm gemacht zu haben; ein Höheres Wesen, das nach der Sintflut schwor, sich nie wieder in menschliche Angelegenheiten einzumischen, das aber Ende des 20. Jahrhunderts beschließt, all jene, die sich mit Freunden desselben Geschlechts im Bett herumwälzen oder die sich ihr Gehirn wie vor ihnen Tausende respektabler Viktorianer mit einem Destillat aus Mohnsaft zu füllen belieben, müßten von der scheußlichsten, tödlichsten und unbarmherzigsten Plage dahingerafft werden, die die Erde je gesehen hat.Welches Höhere Wesen wäre launisch, grausam und irrational genug, sich so aufzuführen? Wo ist die Krankheit, die ausschließlich KZ-Wachen befiel? Wo das Virus, das Kinderschänder befällt, Korrupte, Mörder und Despoten?
Nun könnte man mir entgegnen, nur eine fundamentalistische Randgruppe vertrete so grauenerregende Auffassungen. Gleichwohl gibt es eine zunächst weniger extrem klingende Ansicht, der zufolge jene, die sich die Krankheit durch Bluttransfusionen zuzogen, also hauptsächlich Bluter, irgendwie »unschuldige« Opfer seien. Das impliziert natürlich, daß der Rest schuldig ist und unser Mitleid daher weniger verdient hat. Nun unterliegt Mitleid nicht der Berechnung, Qualifikation oder Kontingenz. Wie Gnade tropft es als sanfter Regen vom Himmel auf die Erde nieder. Natürlich läßt sich argumentieren, wer heute noch HIV-positiv werde, müsse jahrelang simplen und kostenlosen Rat in den Wind geschlagen haben und sei also ein Idiot. Aber wenn wir anfangen, die Welt in Verdienstvolle und Verdienstlose einzuteilen, wie die Viktorianer es mit den Armen taten, dann kehren wir jeder anständigen menschlichen Regung den Rücken.
Was hätte Jesus an unserer Stelle getan? Hätte er unterschieden und diskriminiert, hätte er verurteilt? Es kommt mir unwahrscheinlich vor, daß ein Mann, der Aussätzige berührte und Sünder zu seinen Freunden zählte, sich mit jenen verbünden würde, die mit unverhohlenem Vergnügen jauchzen und sich hämisch die Hände reiben angesichts des Elends und Leidens, das die Krankheit mit sich gebracht hat. Zwar könnte er sagen: »Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr«, aber das würde er zum Bankmanager, Priester und Politiker genauso sagen wie zum Homosexuellen. Sünder sind wir schließlich alle. Immer noch ist Jesus der Mann, der da sprach: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«
Wenn der Ratschlag der Prinzessin von Wales, wann immer wir einen Aidskranken träfen, sollten wir ihn umarmen, befolgt wird, wird diese Not zehn Jahre nach Fortschreiten der Krankheit vielleicht ihr Gutes gehabt haben, etwas, das
uns
ebenso wie die an ihr Leidenden zu besseren Menschen macht.
Denn eines steht fest: Selbst wenn Aids tausend Jahre anhalten sollte, wird die Krankheit niemals so viele Menschenleben fordern, wie Intoleranz seit Menschengedenken und bis heute fordert.
Ein seltsamer Mann
Im Radio war neulich ein seltsamer Mann zu hören. Das ist an sich nichts Neues, das Radio ist mehr oder weniger zur zweiten Heimat für seltsame Menschen geworden. Als Marconi mit seinem ersten funktionierenden Apparat aufs Patentamt kam, hat er als
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