Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
platonischen Akademie, kam ich in dem Bewußtsein an die Universität, mir den Weg in einen heiligen Freundeskreis bahnen zu sollen; ob nun die Apostel oder eine geruhsamere, informelle Sodalität, wußte ich nicht, aber Anthony Powell und Simon Raven, Iris Murdoch selbst sowie zahllose Biographien hatten in mir den Glauben erweckt, die Universität eröffne Aussichten auf besondere Freundschaften – keine Paarungen, sondern ein weiterer, erhabener Zirkel, in dem dann beliebig viele Paarungen möglich gewesen wären. Bei mir ist das nie so gelaufen: Freunde habe ich gefunden und behalten, dutzendweise, aber es gibt keine festumrissene Clique. Mir war zwar bewußt, daß es anderen so erging, und ich werde am Rande mit einer ganzen Reihe verschiedener Verbindungen assoziiert, die das seit meinem Abschluß vergangene Jahrfünft überdauert haben. Charakteristisch für diese Gruppen ist ihr Selbstbewußtsein – sie haben sich als Kreis definiert; sobald das geschehen ist, entsteht eine Gruppendynamik, die sie irgendwie darauf festlegt, sich auf ewig umeinander zu kümmern. Sie wissen um das Ideal der Alma mater und fühlen sich verpflichtet, ihm nachzueifern. Sie haben ihr eigenes College gegründet, das über den Bereich des Studentendaseins hinaus Bestand hat und dessen Fellows sie allesamt sind. Eine lebenslange Fellowship.
Die Mitglieder der Brüderschaft in Iris Murdochs Roman sind Fellows an einem solchen privaten College, das schon drei Jahrzehnte überdauert hat. Wir treffen sie bei einem Oxforder Jubiläumsball, und das sind ganz schön verwirrende fünfzig Seiten. Ein knappes Dutzend Figuren müssen wir kennenlernen, und das erfordert einiges Zurückblättern und Nachprüfen. Welcher war jetzt Gerard? fragen wir uns. War er der mit dem? – Ach nein, das warGulliver. Und war nun Lily oder Tamar die Tochter von Violet? Und wer genau ist Violet überhaupt? Hat Gerard mal mit Jenkin oder mit Duncan zusammengewohnt? Oder mit beiden? Und um welches Jahrzehnt handelt es sich eigentlich? Die jungen Leute auf dem Ball tragen am liebsten dunkelblaue, rüschenbesetzte Blusen, also kann der Roman nicht heute spielen. Tut er aber. Iris Murdoch ist nicht ganz auf dem laufenden, was Jugendmoden angeht. Glaubt sie wirklich, daß eine Rockband sich »Der Verrat der Intellektuellen« nennen könnte? Na gut, sie kann ja auch nicht Romancier, Platoforscherin und Discjockey zugleich sein.
Am Ende des Abends sehen wir etwas klarer. Und die Mühe lohnt sich. Iris Murdochs zentrale Idee, der Plot, ist einfach sagenhaft, sie muß triumphiert haben, als sie darauf stieß. Diese Brüderschaft von Oxfordianern beschloß in der Blüte ihrer linksradikalen Jugend, den blühendsten und radikalsten unter ihnen, Derek Crimond, damit zu beauftragen, ein Buch zu schreiben. Ein Werk der politischen Philosophie, der neomarxistischen Sozialökonomie, wir sind nicht ganz sicher, welche Form es genau annehmen sollte, sie sind nicht ganz sicher. Damals hatten sie ihr Studium abgeschlossen, kamen im Staatsdienst und im diplomatischen Corps voran, fühlten sich schuldig, daß Crimond, der ihren Idealen treu geblieben war, die Zeit zur Abfassung seines großen Werks nicht aufbringen konnte, und bildeten daher nach den Vorbildern Rilkes und Musils selbstbewußt eine Gesellschaft, die Crimond bei seiner Arbeit unterstützen sollte. Aber das ist Jahre her. Crimond bezieht immer noch das Stipendium, aber keine einzige Seite seines Buchs ist je erschienen. Außerdem hat sich der Rest der Gruppe langsam, aber sicher von den radikalen Positionen auf einen gemäßigten Sozialismus oder gar schmierigen Liberalismus hin bewegt. Crimond ist so reingeblieben wie eh und je, ein Verfechter der gewalttätigen Revolution, selbst des Terrorismus. Zum Studium von Bedeutung und Bewegung intellektueller Integrität, Freundschaft, Verrat und zeitenüberdauerndem Vertrauen ist die Brüderschaft mit ihrem gefürchteten Buch ein einfach idealer Kunstgriff. Wie können die silbern glänzenden Ideale der akademischen Wissenschaft und geheiligten Freundschaft im Angesicht der abstumpfenden Realitäten der sozialen, sexuellen und politischen Welt bestehen, die irdische Erwachsene nun einmal bewohnen? Die schmutzigen Wahrheiten von Ehebruch (Crimond stiehlt dem armen Duncan Cambus schon zum zweiten Mal die Frau), postadoleszenter Hysterie, Suizid, selbst Mord belagern die geweihte Zitadelle.
Dieser Kunstgriff läßt eine subtile und komplexe Welt von Symbolen und mythischer
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