Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
Image
bezeichnen, aber ich empfehle es von Herzen jedem, der Narrs genug ist, die Investition in ein großes Fernsehprojekt in Betracht zu ziehen.
Kind des Wandels
Eine Rezension der Autobiographie eines bemerkenswerten Mannes. So sehr Gorbatschows Mann, daß es interessant sein wird zu verfolgen, wie er sich im neuen Rußland entwickelt. Er selbst ist allerdings kein Russe. Kasparows eigentlicher Name Weinstein verrät seine jüdische Herkunft, und seine Heimat Baku ist jetzt Hauptstadt einer unabhängigen Republik, die mit großen ethnischen Problemen zu kämpfen hat.
Child of Change
: von Garry Kasparow und Donald Trelford
Seit der Homo ludens aus dem Urschlamm von Mikado und Dame kroch, sich auf die Hinterbeine stellte und Mensch nannte, haben die 64 Felder und 32 Figuren, die die Grenzen des Schachspiels definieren, auf diese Spezies eine mächtige Faszination ausgeübt. Beim Schach gibt es, wie Schachspieler und George Steiner so gern kundtun, mehr mögliche Stellungen als Atome im Universum. Die Chancen, eine Schale mit Kugellagerkugeln so fallen zu lassen, daß sie den Satz »Little Scrotely begrüßt vorsichtige Fahrer« bilden, sind weit größer als die, daß jemals zwei identische Partien gespielt werden. Und welche Fähigkeiten erfordert das Spiel? Jeder durchschnittliche Meister kann ohne weiteres eine Partie mit verbundenen Augen spielen. Und von Großmeistern weiß man, daß sie fünfzig Simultanpartien gespielt haben, ohne je einen Blick auf eines der Bretter zu werfen. Jeder anständige Spieler kann sich an jede einzelne ernsthafte Partie erinnern, die er je gespielt hat, und an Aberhunderte seiner Zehnminuten-Blitzpartien. Derart ungeheure Gedächtnisleistungen lassen es plausibel erscheinen, daß Schach nicht bloß die üblichen Fähigkeiten beansprucht, die unüblich stark entwickelt wären, sondern eine besonders verrückte Fähigkeit, die man durchaus als Abnormalität bezeichnen kann. Nur Musik und Mathematik kennen wie das Schachspiel das Phänomen des Wunderkindes: Mozarts berühmtes Kunststück, ein ganzes Requiem auswendig zu wissen, die Fähigkeit mancher Mathematiker, Kubikwurzeln im Kopf zu berechnen, gehören in dieselbe Sparte wie die unheimlichen Gaben der Großmeister. Gewöhnlich beruhigt die Öffentlichkeit sich mit dem Hinweis, eine solche Begabung müsse Schwächen auf anderen Gebieten zur Folge haben: um in einem einzigen Kopf Zehntausende von Partien, Stellungen, Eröffnungen und taktischen Tricks festzuhalten, um in Dutzenden von Permutationen zwanzig oder dreißig Züge im vorauszu analysieren, um ein riesiges Auditorium und den Lärm der Welt auszusperren und sich einzig und allein auf die Kraftfelder zu konzentrieren, die zwischen den Holzfiguren auf dem Brett pulsieren, um all das zuwege zu bringen, müsse man doch bestimmt ein bißchen Menschlichkeit aufgeben, oder? Wir erinnern uns, daß die Schachmannschaft in der Schule zum Großteil aus pickligen, beanorakten Lahmärschen mit der Umgänglichkeit und dem Esprit eines übelgelaunten Nicholas Ridley bestand, und trösten uns mit dem Gedanken, Schach sei etwas für Schlappschwänze und durchgeknallte Intelligenzbestien.
Ich muß Sie enttäuschen, falls Sie das wirklich für die Wahrheit über das Schachspiel halten. Die ganzen abgeschmackten Klischees über das »Gewinnen«, das »Rangehen« und die »mentale Vorbereitung«, mit denen Sportler aller Art uns auf den Wecker gehen, gehören zum Vokabular des Großmeisters genauso wie zu dem des Sprinters. Schachweltmeister zeichnen sich durch einen entsetzlich starken Siegeswillen aus. Das Bild auf dem Umschlag von Garry Kasparows und Donald Trelfords Semiautobiographie des derzeitigen Titelträgers zeigt den furchterregenden Anblick, der sich dem bietet, der es wagt, sich Kasparow als Herausforderer gegenüberzusetzen. Riesige, drohende Brauen, ein stoppliges Gesicht, das schon morgens um halb zehn einen Fünfuhrschatten zeigt, in mörderischer Berechnung zusammengezogene Schultern. Wie klar muß der Verstand eines Gegners sein, wie stark seine Willenskraft und Zielstrebigkeit, um vor diesem erschreckend vitalen und energiegeladenen Geistesathleten nicht schlappzumachen, bevor der erste Bauer bewegt wird!
Es ist äußerst beruhigend zu wissen, daß Schach sich keineswegs »verbraucht« hat. Der große Capablanca glaubte, er habe all seine Mysterien gemeistert, bis er sich 1927plötzlich Aljechin gegenübersah und verlor. Neue Ideen werden das Spiel immer
Weitere Kostenlose Bücher