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Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)

Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)

Titel: Paperweight: Literarische Snacks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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wieder beleben. Objektiven Elo-Statistiken zufolge ist Kasparow der stärkste Spieler aller Zeiten. »Stark« ist das von Schachspielern benutzte Wort, nicht »clever« oder »raffiniert« oder »brillant« oder »begabt«. Auch wenn diese Eigenschaften nötig sein mögen, es gewinnt doch der Stärkere. Vielleicht ist das der Grund, warum auch nach hundert Jahren organisierter Frauenturniere immer noch Männer das Spiel dominieren. Abgesehen vom räumlichen Vorstellungsvermögen und dem Sinn für generative Geometrie, wissenschaftlichen Experimenten zufolge bei Männern weiter entwickelt als bei Frauen, erfordert Schach ein übernatürliches Maß an Konkurrenzgeist und Aggressivität – es waren schließlich auch Männer, die das Spiel erfunden haben. Das beste taktische und analytische Geschick der Welt nützt Ihnen nicht das geringste, solange Ihre Nerven und Ihr Killerinstinkt am Brett schwächer sind als die Ihres Gegners. Schach ist eine Kunst, keine Technik: Genauso wie ein Cricket-Schlagmann oder ein Schauspieler kann ein Schachmeister eines Tages auf unerklärliche Weise seine Form verlieren. Trotz all seiner Verstandesgaben und all seines Wissens kann der Spieler jener Mischung aus Konzentration und Selbstvertrauen verlustig gehen, die allein ihm seine Kreativität ermöglicht hat. Ein Handwerker oder ein Techniker kann sein Material meistern, dem Künstler und dem Sportler ist das unmöglich.
    Garry Kasparow tauchte Ende der siebziger Jahre als eines der begabtesten Schachwunderkinder der Geschichte auf. Die Geschichte von
Child of Change
– kurz gesagt, die beste Schachbiographie, die ich je gelesen habe, und ich habe eine ganze Reihe durchgeackert – ist eigentlich nicht die Geschichte von Kasparows Schachentwicklung; um die Grundbegriffe des Schachspiels selbst, um KasparowsBeherrschung von Taktik und Positionstheorie sowie um seine Ausbildung in der Spielpraxis geht es kaum je, obwohl einige der wichtigsten Partien in einem nützlichen Anhang für den Enthusiasten festgehalten worden sind. Hier wird vielmehr erzählt, wie Kasparow im Alleingang gegen das sowjetische und weltweite Schach-Establishment antrat, um sich das zu verdienen, was ihm nach seiner Ansicht und der der meisten Schachbeobachter ganz selbstverständlich zustand, das Recht nämlich, seinem Landsmann und Erzrivalen Anatoli Karpow im direkten Vergleich gegenüberzutreten. Kasparow betont dabei ständig, hätte es Gorbatschow und Glasnost nicht gegeben, wäre er heute nicht Weltmeister.
    Bobby Fischer, der Erfinder des »modernen« modernen Schachs, ist im Grunde auch der Erfinder dieser ganzen Sage. Seine Weigerung, den Titel 1975 gegen Karpow zu verteidigen, machte diesen kampflos zum Weltmeister. Karpows Rang stellte in gewissem Maße das angeschlagene sowjetische Prestige wieder her, und in Breschnews letzten Tagen scharte Karpow, linientreues Parteimitglied und der »brave Junge« des russischen Schachs, eine Clique um sich, die an ihm klebte wie Seepocken an einem Küstenfelsen. Er garantierte ihnen Geld, Autos, Auslandsreisen, und sie waren nicht gewillt, sich das von irgendwem nehmen zu lassen. Kasparows Erscheinen wie ein Blitz aus heiterem Himmel war eine Bedrohung ihrer gesicherten Existenz: es war einfach nicht vorgesehen, daß er es so schnell schaffen würde. Daß seine Landsleute nicht eben darauf erpicht waren, ihn zu fördern, erfuhr Kasparow zum ersten Mal, als man ihm unumwunden sagte: »Wir haben schon einen Weltmeister, wir brauchen keinen zweiten.« Aber Kasparow interessierte das nicht, ihn interessierte Schach. Wenn er der Beste war, dann sollte er gewinnen. Hindernis auf Hindernis wurde ihm in den Weg gelegt, aber auch erlernte, wie man Politik instrumentalisiert, indem er den Stolz der Kommunalpolitiker seiner Heimat auf die Erfolge des Jungen aus ihrer Stadt gegen die Karpowlobby in Moskau ausspielte.
    Für Schachbegeisterte liegt der besondere Genuß bei alldem darin, daß Karpows Spielweise die historische Relevanz der beiden Biographien im weiteren Sinne reflektiert, sein Stil ist vorsichtig, klassisch rein, der eines Stellungskriegers. Kasparow ist, wie es sich für ein Kind der Perestrojka, für einen Pionier des neuen Rußlands gehört, kühn, schneidig, komplex, überraschend, ein Kavalier. Es scheint, als spielten die beiden größten lebenden Spieler um Rußlands Zukunft.
    Ich will Ihnen das Lesevergnügen nicht verderben, indem ich das im Mittelpunkt stehende Drama um Karpows und Kasparows erstes

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