Papilio Mariposa
herangeflogen,
gerade auf mich zu: der Riesenfalter. Mir schwanden
die Sinne.
Nun mußte ich mich entschließen, einen Psychiater
zu befragen; denn diese abermalige Halluzination ließ
mich an der Klarheit meines Verstandes zweifeln.
Die psychoanalytische Behandlung hatte besten Erfolg.
Der Arzt setzte mir auseinander und brachte mir
sogar die Überzeugung bei, daß ich das Traumbild in
Wirklichkeit gar nicht zweimal, sondern bloß ein einziges
Mal gesehen hatte. Es liege hier ein typischer Fall
des sogenannten Pseudobekanntschaftsgefühles vor:
vermeintliche Wiederholung eines in Wirklichkeit bloß
einmaligen Traumes.
Den Traum deutete er folgendermaßen. Das heißt,
ich selbst gelangte dank der kundigen Befragung und
Anleitung des Arztes zu folgender Deutung: Der
Schmetterling ist mein Lieblingstier, die Lehre von den
Schmetterlingen mein Lieblingsstudium, meine eigentliche
wissenschaftliche Domäne. Als ich vor zwei Jahren
infolge Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand
treten mußte, traf es mich sehr hart, daß ich
meine akademische Tätigkeit aufgeben mußte. In dem
Traume ist nun der Schmetterling das Symbol der
Manneskraft, die ich vor Jahren einbüßte gleich meiner
Lehrtätigkeit und nach denen beiden ich mich
sehne. Der Traum ist ein Wunschtraum. Er bedeutet,
daß ›mein besonderer Liebling‹, der lang vermißte,
nun nach Jahren wiederkehrt und sich in wunderbarerSchwungkraft erhebt, in neuer ungeahnter Größe
erblüht.
Vielleicht weil meine ganze wissenschaftliche Erfahrung
sich gegen die Existenz eines solchen Ungetüms
sträubt — die Spannweite des größten Schmetterlings
mißt einen Klafter, er lebt in unzugänglichen Tropensümpfen
—, vielleicht weil ich selbst, von dem Arzte geschickt
und unmerklich geleitet, zu jener Deutung des
Traumes gelangte — kurzum, ich war völlig von ihrer
Richtigkeit überzeugt. Der Arzt hat mir alle trüben Gedanken
›ausgeredet‹, wie das Volk so richtig sagt. Ich
fühle mich wieder gesund.
Aber etwas anderes ist es, was mich bedrückt. Meine
Enkelin, ein bildschönes Mädchen — seit dem Tode
ihrer beiden Eltern lebt sie bei mir —, ist seit dem
Abende, da ich den Riesenschmetterling zum zweiten
Male zu sehen glaubte, verschwunden.
Ich bin ratlos, und immer wieder plagt mich der Gedanke,
daß ich in einem Anfall von Geistesstörung —
an den ich mich natürlich nicht erinnere — das arme
Kind mißhandelt haben könnte und daß sie darum fort
ist. Das Kind war meine einzige Freude. Nun bin ich
ganz allein . . .«
Bei diesen Worten fiel mir plötzlich ein, daß ich die
Meldung über die vermißten Frauen noch immer nicht
erstattet hatte. —
Der Erzähler war zu Ende und schwieg, das Haupt
in den Händen vergraben. Die Abendschatten sanken
nieder, und in dem Raume lastete bedrücktes Schweigen.
Schweigend schritt ich auf und nieder, bewegt von
mächtiger Erregung.
Mit Sinnestäuschung und mit Traumdeutung war
all dies nicht abzutun. Das waren Tatsachen. Tatsachen,die unfaßbar schienen, mit denen man sich aber
auseinandersetzen mußte. Der Flügellöwe in Venedig
und der Flügelsalamander Mariposas, der Riesenfalter
des Professors und der Vampir des Bauern, deuten sie
nicht alle nach demselben Ziele — Wegweiser einer
kühnen Bahn, die machtvoll aufstrebt in geheimnisvollem
Dunkel?
»Immer wieder diese Rätsel Mariposas«, sprach ich
in Gedanken vor mich hin.
»Sie kennen ihn?« fuhr der Professor auf. »Er war
mein Hörer, mein bester Schüler. Ich trau’ ihm manches
zu . . .« Erbleichend faßten wir einander bei den
Händen mit einem Blick entsetzten Ahnens.
Ich erzählte dem Professor alles, was ich von Mariposa
wußte: von seinen Studien und der geheimnisvollen
Reise, von den geheimnisvollen Flügeltieren bis zu
dem sonderbaren Frauentrupp, bei dem ich seine Enkelin
vermutete.
Er brach sogleich auf, um sie dort zu suchen. —·
Auf der Rückfahrt ließ ich in Leoben zum Mittagessen
halten. Während ich auf die Mahlzeit wartete, blätterte
ich in den »Leobner Nachrichten«, die mir gerade
in die Hände fielen.
Da stand in der Lokalchronik unter dem Titel »Sonderbare
Halluzinationen« folgendes zu lesen: »Vorgestern
abend fand in der Städtischen Singspielhalle ein
Konzert der Wiener Symphoniker statt. Während der
Veranstaltung beobachteten die Saaldiener einen ungeheuren
Schmetterling, größer als ein Reiher, der über
dem Konzerthaus kreiste und sich bisweilen auf dem
Dache niederließ, wie wenn er der Musik
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