Papilio Mariposa
glichen seine Leistungen der Kinematographie.
Es war sehr schwer, von ihm überhaupt empfangen
zu werden. Nicht nur wegen des gewaltigen Zulaufs,
den er hatte, sondern weil er als reicher Mann seine
Kunst nur aus Liebhaberei, nicht aber zu Erwerbszwecken
ausübte. Und wenn es endlich gelang, bis zu ihm
vorzudringen, so war damit noch nicht gesagt, daß er
auch Auskunft gab. Bald war er nicht in Stimmung,
dann wieder war ihm der Fall widerwärtig, ein andermal
erregte er ihn zu sehr.
Da ich mich auf die Empfehlung eines Freundes
Pappafavas berufen konnte, wurde ich vorgelassen.
Ich erzählte ihm lediglich, einer meiner Freunde, ein
Gelehrter, der ein einsames Landgut bewohnte, hätte
vor Jahresfrist erklärt, eine weite Forschungsreise anzutreten.
Seit einem Jahre sei er verschollen. Dennoch
stehe fest, daß er keine Reise angetreten hatte. Mir
liege daran, die Ursache dieses Verschwindens zu ergründen.
»Wenn es wirklich sicher ist, daß Ihr Freund nicht
verreist ist, dann gibt es nur drei mögliche Ursachen
seines Verschwindens: Selbstmord, Unfall oder Verbrechen.
Ob Selbstmord in Frage kommt, werden wir gleich
sehen. Geben Sir mir den letzten Brief Ihres Freundes
vor seiner angeblichen Abreise.«
Ich zeigte ihm den Brief, den mir Mariposa vor seinem
letzten Besuche geschrieben hatte.
Er warf nur einen kurzen Blick auf die Schriftzüge
und sagte: »Nein, Selbstmord kommt nicht in Frage.
Der Mensch will hundert Leben leben. Der nutzt sein
Leben wie kein anderer; der wirft es nicht weg.
Aber dieser Brief ist nur mit dem Anfangsbuchstaben
M. unterfertigt. Für mich ist die Namensunterschrift
das Wichtigste. Ich brauche die allerletzte
Nachricht von ihm, die seine volle Unterschrift trägt.«
Ich erinnerte mich an den Zettel, den ich den Pächtersleuten
abgenommen hatte; er war in meinen Akten
verwahrt. Mit Pappafavas Zustimmung fuhr ich in
meine Kanzlei, um ihn sogleich zu holen.
Als ich zurückkehrte — meine Abwesenheit hatte nur
etwa zehn Minuten gedauert —, fand ich Pappafava
noch immer über den Brief Mariposas gebeugt. Der
Fall begann ihn augenscheinlich ungemein zu interessieren.
Er stürzte sich förmlich auf den Zettel, den ich
brachte.
Lange betrachtete er die Schrift, in ungeheurer Konzentration.
Dann begann er ruhig, besinnlich: »Nein . . .,
auch kein Verbrechen. Man hat ihm nichts angetan. Er
selbst will mit sich etwas tun, sich etwas antun . . .«
Als er meine Bestürzung merkte: »Nein, kein Selbstmord.
Wenn er sein Leben vernichtet« — zögernd, sinnend
—, »dann nur, um wie ein Phönix aufzuerstehen.«
Dann fuhr er fort, in abgebrochenen Sätzen, mit tiefer,
feierlicher Stimme, wie aus einer Vision, wie eine
Pythia auf dem Dreifuß: »Ich höre die Musik der dritten
Leonoren-Ouverure: O Herr, mein Gott, aus tiefster
Not schrei’ ich zu dir.
Ein Genie ringt um Erlösung. Aus der Kerkernacht
des Menschentums drängt es, stürmt es, rast es nach
dem Lichte einer übermenschlichen Freiheit.
Ja, ein Phosphoros ist er, ein Lichtbringer. Ein
Lichtbringer will er sein.
Und die Freiheit ist ihm nahe. Schon höre ich die
rettenden Posaunen. Ob sie das Licht bringt? Ob er
das Licht bringt?
Um mich schwirrt es wie von tausend Fittichen . . .
Ach, wenn ich es doch ergründen könnte, was es ist mit
diesen Raupen, diesen Schmetterlingen . . .
Nein, ich kann es nicht fassen, dieses Schmetterlingswunder
. . . Nein« — er keuchte es mit gebrochener
Stimme —, »das geht über meine Fassungskraft.«
Ergriffen schwieg ich. Endlich fragte ich ihn: »Woher
wissen Sie das von den Raupen und Schmetterlingen
Mariposas?«
»Aus der Unterschrift. Der Namensschriftzug jedes
Menschen spiegelt bildhaft seinen Lebensplan. Es ist
wie ein Vexierbild; man muß es zu entziffern wissen.
Ich will einmal die Konturen des Vexierbildes, welches
diese Unterschrift hier verbirgt, verstärken. Sie werden
dann sogleich die Raupenwindungen und Schmetterlingsflügel
erkennen.«
Er zog einige Linien der Unterschrift nach und
zeigte sie mir. Sie sah etwa folgendermaßen aus:
E s gibt Zufälle, die auch
den Nüchternsten nachdenklich stimmen. Ich hatte eine
Verhandlung vor dem Zivillandesgericht. Der Beginn
verzögerte sich, ich verbrachte die Wartezeit im Gespräche
mit dem Klienten. Im Warteraum stand noch
eine Gruppe beisammen, in ihrer Mitte der bekannte
Psychiater Professor Heinold. Er war als Sachverständiger
zu der Verhandlung im Nachbarsaale geladen
und erzählte zum Zeitvertreib einiges aus
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