Papillon
beiliegenden Papier. Wenn Du den Besen an der Tür hörst, so kratze selbst mit dem Finger. Wenn man zurückkratzt, schieb das Papier unter die Tür. Aber schiebe es nie durch, bevor man auf Dein Kratzen geantwortet hat. Steck das Papier in Dein Ohr, damit Du es nicht aus dem Stöpsel nehmen mußt, und die Mine legst Du irgendwo an den Mauerrand in Deiner Zelle. Nur Mut! Wir umarmen Dich. Ignace – Louis.«
Die Nachricht ist also von Galgani und Dega. Mir wird wohl ums Herz. So treue, ergebene Freunde zu haben, das hält warm. Es bestärkt mich in dem Glauben, lebend aus dieser Gruft herauszukommen. Mein Schritt klingt munterer, fröhlicher: eins, zwei, drei, vier, fünf – kehrt. Während ich gehe, überlege ich, wieviel Edelmut und wieviel Verlangen, Gutes zu tun, doch in diesen beiden Männern steckt. Sie riskieren gewiß sehr viel, am Ende ihre Posten als Buchhalter und Briefträger. Es ist wirklich großartig, daß sie das für mich tun, ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß sie das teuer zu stehen kommen kann. Wie viele Menschen müssen sie bestechen, um von der Ile Royale bis zu mir in den Käfig der »Menschenfresserin« zu gelangen.
Der Leser muß verstehen, daß eine trockene Kokosnuß viel Öl enthält. Wenn man sechs Nüsse schält und nichts als ihr Mark in warmem Wasser aufweicht, schwimmt am folgenden Tag an der Oberfläche ein Liter Öl. Dieses Öl, dessen wertvolle Fettstoffe uns bei unserer Verpflegung am meisten abgehen, ist auch sehr vitaminreich. Eine Kokosnuß täglich, und unsere Gesundheit ist sichergestellt. Zumindest kann man den Wassergehalt seines Blutes auf der nötigen Höhe erhalten und geht nicht an Körperschwäche zugrunde.
Es ist jetzt bereits zwei Monate her, daß ich, ohne Zwischenfall, zu essen und zu rauchen bekomme. Beim Rauchen bin ich vorsichtig wie ein Sioux. Ich inhaliere tief, dann lasse ich den Rauch in winzigen Portionen heraus und verjage ihn mit der offenen Hand wie mit einem Fächer.
Gestern ist etwas Sonderbares passiert, und ich weiß nicht, ob ich richtig oder falsch reagiert habe. Ein Aufseher hat sich oben auf dem Steg über das Geländer gebeugt und in meine Zelle geschaut. Er hat sich eine Zigarette angezündet, hat kurz daran gezogen und sie dann in meine Zelle herunterfallen lassen.
Danach ist er weitergegangen. Ich habe gewartet, bis er wieder zurück war, und habe dann die Zigarette vor seinen Augen ausgetreten. Er blieb kurz stehen, und nachdem er genau gesehen hatte, was ich tat, ist er wieder gegangen. Hat er Mitleid mit mir gehabt? Oder schämte er sich für die Verwaltung, der er angehört?
Oder sollte es eine Falle sein? Ich weiß es nicht, und das beschäftigt mich. Wenn man leidet, wird man überempfindlich. Es wäre mir unangenehm, wenn er vielleicht sekundenlang gut sein wollte und ich ihn mit meiner verächtlichen Geste gekränkt habe.
Es ist tatsächlich schon mehr als zwei Monate her, daß ich hier bin. Dieses Zuchthaus ist das einzige Gefängnis, in dem es für mich nichts zu lernen gibt. Es gibt hier nichts zu kombinieren … Ich bin sehr geübt darin, mich zu verdoppeln, ich habe eine unfehlbare Taktik darin. Um wieder frei unter Sternen zu wandeln, um mühelos an den verschiedenen Stationen meiner Kindheit oder meiner Vergangenheit herumzuspazieren oder überraschend reale Luftschlösser zu bauen, muß ich mich vorher sehr ermüden. Ich muß stundenlang ohne Unterbrechung auf und ab gehen und dabei ganz normal an irgend etwas denken.
Wenn ich dann buchstäblich nicht mehr kann, strecke ich mich auf meiner Pritsche aus, lege den Kopf auf ein Stück meiner Decke und schlage mir das andere übers Gesicht. Wenn dann die Luft der Zelle bereits verdünnt an meine Lippen gelangt und ich sie mit knapper Müh und Not durch die Decke in meine Nase saugen kann, scheint in meinen Lungen eine Art Scheintod zu entstehen. Mein Kopf beginnt zu glühen. Ich ersticke vor Hitze, ringe nach Luft und beginne auf einmal zu fliegen. Ah, dieses Flüstern der Seele, was für unbeschreibliche Empfindungen weckt das in mir! Ich habe Liebesnächte durchlebt, intensiver als in der Zeit meiner Freiheit, aufwühlender und erregender als die echten, die ich wirklich erlebte. Ja diese Fähigkeit, durch das Weltall zu reisen, erlaubt mir, mich neben meine Mutter zu setzen, die seit siebzehn Jahren tot ist.
Ich spiele mit ihrem Kleid, und sie streicht mir über die Locken, die sie mich mit fünf Jahren wie ein kleines Mädchen sehr lang tragen ließ. Ich
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