Papillon
chronische Dysenterie. Da ist es einigermaßen leicht, zum Erwünschten zu kommen, aber es bedeutet auch eine furchtbare Gefahr: das Zusammenleben in einem Spezialpavillon, isoliert für fast zwei Jahre, mit Kranken der gewählten Art. Sich als Leprösen auszugeben und die Lepra dann tatsächlich zu erwischen, eine Prachtlunge zu haben und als Tuberkulöser herauszukommen, dazu braucht es nur eines kleinen Schrittes, der häufig genug getan wird.
Was die Dysenterie anlangt, so ist es noch schwerer, der Ansteckung zu entgehen. So bin ich also mit meinen hundertzwanzig Kameraden im Bau A. Man muß lernen, in solcher Gemeinschaft zu leben, wo man sehr schnell abgestempelt wird. Zuerst einmal muß jeder zu wissen bekommen, daß man dich nicht ohne Gefahr angreifen darf. Einmal gefürchtet, erwirbt man sich Respekt durch die Art, wie man sich den Aufsehern gegenüber verhält, wie man gewisse Tätigkeiten ablehnt, wie man niemals die Autorität der Wächter anerkennt, niemals gehorcht, selbst um den Preis eines Zusammenstoßes mit einem Aufseher.
Wenn man die ganze Nacht hindurch gespielt hat, geht man nicht einmal zum Appell. Der Wächter der Casa (unser Bau wird die »Casa« genannt) ruft einfach: »Ein Bettlägriger.« In den beiden andern »Casas« gehen die Aufseher manchmal den gemeldeten »Kranken« suchen und zwingen ihn, am Appell teilzunehmen. Niemals aber im Gebäude der Starrköpfe. Denn woran ihnen vor allem liegt, dem Höchsten und dem Niedrigsten, ist Ruhe im Bau.
Mein Freund Grandet, mit dem ich in Hüttengemeinschaft lebe, ist ein Marseiller von fünfunddreißig Jahren.
Sehr groß, mager wie ein Nagel, aber sehr stark. Wir sind Freunde von Frankreich her, waren zusammen in Toulon, ebenso in Marseille und Paris.
Er ist ein berühmter Geldschrankknacker, ein guter Kerl, dennoch kann er sehr gefährlich sein. Heute bin ich fast allein in dem riesigen Saal. Der Chef der »Casa« fegt den Betonboden. Ich sehe einen Mann, der dabei ist, eine Uhr zu richten, vor dem linken Auge irgendein Ding aus Holz. Das Brett über seiner Hängematte ist voll mit zwei Dutzend Uhren. Der Bursch mit den Zügen eines Mannes in den Dreißigern hat ganz weiße Haare. Ich nähere mich ihm und schaue ihm bei der Arbeit zu, dann versuche ich ein Gespräch anzuknüpfen. Er hebt nicht einmal den Kopf und bleibt stumm. Ein wenig verärgert wende ich mich ab, gehe in den Hof hinaus und setze mich vors Waschhaus. Dort finde ich Titi den Spieler mit einem vollkommen neuen Kartenspiel beschäftigt. Seine flinken Finger mischen die zweiunddreißig Karten mit unglaublicher Schnelligkeit, und ohne in diesem Spiel seiner geschickten Taschenspielerhände innezuhalten, sagt er: »Na, mein Alter, wie geht’s? Fühlst dich wohl auf Royale?«
»Ja, aber heute langweile ich mich. Ich werde ein bißchen arbeiten gehen, so komme ich heraus aus dem Lager. Eben wollte ich mich mit einem Burschen unterhalten, so ein Uhrmacher ist das, aber er hat mir nicht einmal geantwortet.«
»Du redest dich leicht, Papi. Der Bursch hustet auf jeden. Der kennt nur seine Uhr. Der Rest ist ihm Scheiße.
Nach dem, was ihm zugestoßen ist, hat er ein Recht, sich einzukapseln. Stell dir vor, dieser Junge – man kann ihn so nennen, denn er ist noch nicht einmal dreißig – ist im vergangenen Jahr zum Tod verurteilt worden, weil er sozusagen die Frau eines Aufsehers vergewaltigt hat. Der reine Blödsinn. Er hat schon lange vorher mit seiner Hausfrau geschlafen, der Angetrauten eines bretonischen Oberaufsehers. Da er bei ihnen als Hausbursch arbeitete, führte sich der Uhrmacher das hübsche Kind jedesmal zu Gemüte, wenn der Bretone Dienst hatte. Nur einen Fehler leisteten sich die beiden: das Weibsstück ließ ihn nicht mehr die Wäsche waschen und bügeln, sie besorgte das selbst, und ihr Hahnrei von einem Gatten, der ihre Faulheit kannte, fand das seltsam und begann Verdacht zu schöpfen. Aber er hatte keinen Beweis für sein Pech.
Also dachte er sich etwas aus, um die zwei Hübschen in flagranti zu erwischen und beide zu töten. Er rechnete nicht mit der Reaktion des Weibsstücks. Eines Tages verließ er seinen Dienst zwei Stunden nachdem er ihn angetreten hatte und bat einen Aufseher, ihn nach Hause zu begleiten, unter dem Vorwand, er wolle ihm einen Schinken schenken, den er von irgendwem als Draufgabe erhalten habe. Leise kam er zu seiner Haustür, aber kaum öffnete er sie, da begann der Papagei zu kreischen: »Der Herr ist da!«, wie das Vieh es immer
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