Papillon
Männer tragen Carlino auf einer Tragbahre hinaus. Dritter Glockenschlag. Noch den blutbeschmierten Dolch in der Hand, befiehlt der Oberaufseher:
»Alle in Reihen antreten zum Appell! Heute werden keine Bettlägerigen gelten gelassen.« Alle gehen hinaus.
Beim Morgenappell sind die Kommandanten und Oberwächter immer anwesend. Der Appell beginnt. Wir werden aufgerufen. Bei Carlino angelangt, antwortet der Chef der Casa: »Heute nacht gestorben, zum Leichenhaus gebracht.«
»Gut«, sagt der Aufseher, der den Appell durchführt. Nachdem alle anderen »Hier« geantwortet haben, hebt der Lagerchef das Messer in die Luft und fragt:
»Kennt jemand dieses Messer?« Niemand antwortet.
»Hat jemand den Mörder gesehen?« Vollkommene Stille.
»Also niemand weiß etwas, wie üblich. Streckt die Hände vor, einer nach dem andern, und dann geht jeder an seine Arbeit. Immer das gleiche, Herr Kommandant. Nicht zu entdecken, wer das Ding gedreht hat.«
»Zum Akt«, sagt der Kommandant. »Verwahren Sie das Messer und hängen Sie einen Zettel daran, daß Carlino damit getötet wurde.«
Das ist alles. Ich gehe in die Casa zurück und lege mich zum Schlafen nieder, denn ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Vor dem Einschlafen sage ich mir, ein Sträfling ist wirklich ein Nichts. Selbst wenn man ihn niederträchtig umgebracht hat, hält man sich nicht damit auf, nach dem Täter zu suchen. Was ist das schon für die Verwaltung – ein Zwangsarbeiter? Ein Nichts. Weniger als ein Hund.
Ich habe beschlossen, am Montag meine Arbeit als Latrinenausräumer zu beginnen. Um halb fünf Uhr werde ich mit noch einem anderen losziehen, um die Abtritteimer von Bau A auszuleeren, die unsrigen. Laut Vorschrift sind sie direkt ins Meer zu kippen. Aber da er von uns dafür bezahlt wird, wartet der Büffeltreiber an einer bestimmten Stelle der Hochebene auf uns, wo ein schmaler, auszementierter Kanal bis zum Meer hinunterführt. So werden also sehr schnell, in weniger als zwanzig Minuten, alle Eimer in diesen Kanal entleert, und damit das Ganze nicht steckenbleibt, werden dreitausend Liter Meerwasser hinterhergeschickt, die in einer riesigen Tonne herbeigeschafft werden. Für diese Wasserreise werden dem Büffelhalter, einem sympathischen Schwarzen aus Martinique, zwanzig Franc täglich ausbezahlt. Dem Abfließen wird mit einem sehr harten Besen nachgeholfen. Da es mein erster Arbeitstag ist, hat mir das Tragen der Kübel zwischen zwei Holzbarren die Handgelenke etwas ermüdet. Aber ich werde mich bald daran gewöhnen.
Mein neuer Kamerad ist sehr umgänglich, dennoch behauptet Galgani, daß es sich bei ihm um einen außergewöhnlich gefährlichen Mann handelt. Es scheint, er hat sieben Morde auf den Inseln vollbracht.
Seine Masche ist es, Menschenscheiße zu verkaufen. Tatsächlich muß jeder Gärtner einen Komposthaufen haben. Dazu gräbt er eine Grube, gibt trockene Blätter und Gras hinein, und mein Martiniquaner bringt heimlich ein oder zwei Exkremententonnen zum bezeichneten Garten. Gewiß, einer allein kann das nicht bewerkstelligen, und so muß ich ihm dabei helfen. Aber ich weiß, daß das etwas ist, was man nicht machen sollte, denn dadurch kann das angebaute Gemüse sowohl bei den Aufsehern wie unter den Verbannten die Ruhr verbreiten. Ich beschließe, daß ich ihn eines Tages, wenn ich ihn besser kenne, davon abbringen werde, das weiterzumachen. Selbstverständlich werde ich ihm ersetzen, was er durch das Aufgeben seines Geschäftes einbüßt. Außerdem schnitzt er Rinderhörner. Wie man an die Fischerei herankommt, kann er mir nicht sagen, aber am Kai unten können mir Chapar oder andere helfen.
So bin ich also Latrinenausleerer. Nach getaner Arbeit nehme ich eine gute Dusche, zieh mir die Shorts an und gehe jeden Tag in Freiheit, oder was mir als solche erscheint, fischen. Ich habe nur eine Verpflichtung: ich muß zu Mittag im Lager sein. Dank Chapar fehlt es mir weder an Angelhaken noch an Angelruten. Wenn ich mit den roten Barben, die an ihren Flossen an einem Eisendraht aufgehängt sind, zurückkehre, kommt es nicht selten vor, daß mich die Frauen der Aufseher von ihren Häuschen aus anrufen. Sie kennen alle meinen Namen. »Papillon, verkaufen Sie mir zwei Kilo Rötlinge!«
»Sind Sie krank?«
»Nein.«
»Haben Sie ein krankes Kind?«
»Nein.«
»Dann verkaufe ich Ihnen meinen Fisch nicht.«
Ich fange so große Mengen, daß ich meinen Freunden im Lager davon abgeben kann. Ich tausche sie gegen Weißbrot, gegen
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