Papillon
sagt er zu mir, daß seine Frau gemeint hat, es wäre ganz verständlich, daß ein Mann, wenn er noch nicht ganz verdorben ist, zu flüchten versucht. Sehr geschickt tut er so, als glaube er meinen Versicherungen in bezug auf die Mittäterschaft von Carbonieri. Ich habe den Eindruck, ihn wirklich davon überzeugt zu haben, daß es für Carbonieri praktisch unmöglich gewesen ist, mir für wenige Minuten seine Mithilfe beim Herausheben der Matten zu verweigern.
Bourset hat meinen Drohbrief und meinen Floßplan vorgezeigt. Was ihn betrifft, so ist der Kommandant vollkommen überzeugt, daß es damit seine Richtigkeit hat. Ich frage ihn um seine Meinung, wieviel ich für diese Anklage bekommen kann. Er meint, nicht mehr als achtzehn Monate.
Allmählich, Schritt für Schritt, steige ich aus dem Abgrund empor, in den ich mich selbst gestürzt habe. Ich habe ein Wort von Chatal, dem Sanitäter, erhalten. Er teilt mir mit, daß sich Bebert Gelier im Spital befindet, abseits von den anderen, im Krankensaal, und auf Grund einer seltenen Diagnose seine Entlassung erwartet: Leberabszeß. Da muß es eine Absprache gegeben haben zwischen der Verwaltung und dem Doktor, um ihn vor Racheakten zu schützen.
Weder ich selbst noch die Zelle werden durchsucht. Ich nütze das und lasse mir von draußen ein Messer beschaffen. Naric und Quenier sage ich, sie mögen um eine Gegenüberstellung zwischen dem Aufseher der Werkstatt, Bebert Gelier, dem Tischler und mir beim Kommandanten ansuchen, der nach dieser Konfrontation eine, wie ihm scheint, gerechte Entscheidung zu treffen beabsichtigt: Überstellung in Untersuchungshaft, oder Disziplinarstrafe, oder Freilassung ins Lager zurück.
Beim Spaziergang heute sagte mir Naric, daß der Kommandant es bewilligt hat. Die Konfrontation wird morgen um zehn Uhr statt- finden. Der Chefaufseher als Leiter der Untersuchung wird an ihr teilnehmen. Die ganze Nacht über versuche ich verzweifelt, mich zur Vernunft zu bringen, denn ich habe die Absicht, Bebert Gelier zu töten. Es wäre einfach zu ungerecht, wenn dieser Mann für seinen Spitzeldienst freikommt, und später auf dem Festland gelingt ihm die Flucht zum Ausgleich für eine, die er verhindert hat. Ja, man kann dich aber zum Tod verurteilen, denn man wird es für vorsätzlichen Mord halten. Egal. Ich komme zu diesem Ergebnis, weil ich einfach völlig verzweifelt bin. Vier Monate Hoffnung, Freude, Angst, Einfallsreichtum, und jetzt kurz vor dem Ziel ein so jämmerliches Ende wegen der Zunge eines Spitzels. Komme was wolle, morgen werd ich versuchen, Gelier zu töten!
Das einzige Mittel, nicht zum Tode verurteilt zu werden, ist: er muß sein Messer ziehen. Dazu muß ich ihn vorher mein offenes Messer sehen lassen. Gewiß zieht er dann sein eigenes. Das muß gleich zu Anfang oder sofort nach der Gegenüberstellung geschehen. Ich kann ihn nicht während der Gegenüberstellung töten, denn dann riskiere ich, daß ein Aufseher mir eine Kugel in den Bauch jagt.
Die ganze Nacht über kämpfe ich gegen diese Gedanken an. Ich kann sie nicht auslöschen. Im Leben gibt es wirklich unverzeihliche Dinge. Ich weiß, daß man kein Recht auf Selbstjustiz hat, aber das gilt für Leute einer anderen sozialen Schicht. Ist es nicht gerechtfertigt, daß einem der Gedanke kommt, ein so widerliches Subjekt unerbittlich und unmittelbar zu bestrafen? Ich habe ihm nichts Böses getan, diesem Kerl, den sie aus der Festungshaft entlassen haben, er kennt mich nicht einmal. Und er hat mich zu X Jahren Kerker verurteilt, ohne mir das geringste vorwerfen zu können. Mit Absicht wollte er mich begraben lassen, um selber wiederaufzuleben. Nein, nein und nochmals nein! Es ist unmöglich, ich kann nicht zulassen, daß er aus seiner schimpflichen Tat Nutzen zieht. Unmöglich. Ich fühle mich verloren. Ein Verlorener bin ich. Soll er es auch sein! Mehr noch als ich! Zahn um Zahn. Und wenn man dich zum Tod verurteilt? Es wäre blöd, für so eine niedrige Person zu sterben. Schließlich komme ich so weit, daß ich mir selbst ein Versprechen gebe: Zieht er sein Messer nicht – töte ich ihn nicht.
Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, ein ganzes Paket schwarzen Tabak aufgeraucht. Es verbleiben mir nur noch zwei Zigaretten bis zum Morgenkaffee um sechs. Die Spannung in mir ist so groß, daß ich den Kaffeeaustrager vor dem Aufseher bitte, obwohl das verboten ist: »Kannst du mir ein paar Zigaretten oder etwas Tabak geben, wenn’s dir der Chef erlaubt? Ich bin nämlich am
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