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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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Puppen im Garten, und dann schmelzen sie in der Sonne und verlieren die Form. Du kannst dir den Krach vorstellen, den mir die Mütter machen, wenn ich vergesse, in welcher Straße ich schon einmal eine solche Puppe verkauft habe. Seit einem Monat darf ich mich bei Tag in halb Georgetown nicht mehr blicken lassen. Mit den Fahrrädern ist es das gleiche. Wenn einer seines in der Sonne stehenläßt und will nachher damit wegfahren, bleiben ihm die Hände an meinen Griffen kleben …«
    Ich unterhalte mich glänzend bei diesen modernen Wundergeschichten, und gleichzeitig lassen sie mich erkennen, daß es tatsächlich nicht leicht ist, sich hier sein Brot zu verdienen. Einer dreht an der Bar das Radio an. Ein Aufruf von de Gaulle. Alle Welt hört dieser französischen Stimme zu, die aus London die Franzosen im Land, in den Kolonien, in Übersee ermutigt. Der Appell ist pathetisch; kein einziger in der Runde wagt den Mund aufzumachen, alle hören zu. Bis mit einemmal einer der Schweren, der zuviel von den Cuba libres getrunken hat, aufsteht und brüllt:
    »Ihr Scheißkerle, ihr! Nein, so was! Plötzlich habe ich Englisch gelernt, ich verstehe alles, was der sagt, der Churchill!« Alle brechen in Lachen aus; niemand nimmt sich die Mühe, ihn über seinen Sprachirrtum aufzuklären.
    Jawohl, ich muß die ersten Versuche unternehmen, etwas zu verdienen. An den anderen sehe ich, wie schwer das sein wird. Von 1930 bis 1942 habe ich jede Form von Selbstverantwortung eingebüßt, das Wissen darum, wie man sich verhalten muß, ohne daß es einem jemand sagt. Ein Mensch, der so lange gefangen ist, braucht sich nicht um Essen, Wohnung und Kleidung zu kümmern; er ist ein Mann, der geführt, der hin und her geschoben wird, den man daran gewöhnt, daß er nichts mehr von sich selbst aus tut und nur noch willenlos die verschiedensten Befehle ausführt, ohne sie zu prüfen. So ein Mann, der sich nun plötzlich in einer großen Stadt findet und wieder lernen muß, auf den Gehsteigen zu gehen, ohne die Leute anzustoßen, eine Straße zu überqueren, ohne niedergefahren zu werden, es selbstverständlich zu finden, daß man ihm in einem Lokal auf sein Verlangen etwas zu trinken und zu essen gibt – so ein Mann muß wieder lernen, ?u leben. Es gibt zum Beispiel unerwartete Reaktionen. Im Kreis dieser Schweren, Freigelassenen, Ausgewiesenen, Geflüchteten, die in ihr Französisch englische oder spanische Brocken mischen und deren Geschichtchen ich mit geschärftem Ohr lausche, muß ich plötzlich aufs Klosett gehen.
    Nun, es mag schwer vorstellbar sein – aber ich habe tatsächlich den Bruchteil einer Sekunde lang den Aufseher gesucht, den ich um Erlaubnis hätte bitten müssen. Es war ein flüchtiges, aber zugleich ein sehr merkwürdiges Erlebnis, als mir bewußt wurde: Papillon, jetzt brauchst du niemanden mehr um Erlaubnis zu fragen, wenn du pissen gehen willst oder etwas anderes machen.
    Auch im Kino, als die Platzanweiserin uns zu unseren Plätzen führte, durchfuhr es mich wie ein Blitz – wollte ich zu ihr sagen: »Ich bitte Sie, bemühen Sie sich nicht, ich bin nur ein armer Sträfling, der keinerlei Aufmerksamkeit verdient.« Während wir auf der Straße gingen, auf dem Weg vom Kino in die Bar, habe ich mich mehrmals umgewandt. Guittou, der diese Angewohnheit kennt, sagte: »Warum drehst du dich so oft um und schaust nach hinten? Du guckst, ob der Aufpasser dir folgt, wie? Es gibt keine Gammler hier, Papillon, Alter! Du hast sie im Bagno gelassen!«
    In der Sprache der Schweren heißt das: Man muß den Sträflingskittel abwerfen. Aber es geht um mehr: Man muß nicht nur den Sträflingskittel abwerfen, man muß in seiner Seele und in seinem Hirn die Brandmale des Verfemten austilgen.
    Eine Polizeistreife, tadellos gekleidete englische Neger, kommt in die Bar herein. Sie gehen von Tisch zu Tisch, verlangen die Personalausweise. In unserer Ecke angekommen, prüft der Chef eingehend alle Gesichter. Er findet nur eines, das er nicht kennt – das meinige.
    »Ihren Personalausweis bitte, mein Herr.«
    Ich gebe ihm meine Karte. Er wirft einen Blick darauf, gibt mir den Ausweis zurück und sagt:
    »Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gekannt. Seien Sie willkommen in Georgetown.« Und geht weiter.
    Paul, der Savoyarde, fügt, nachdem der Polizist weg ist, hinzu:
    »Diese Roastbeefs sind einfach großartig. Die einzigen Fremden, denen sie hundertprozentiges Vertrauen schenken, sind die geflüchteten Schweren. Kannst du einer englischen

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