Papillon
behandelt.«
Der Mann aus Martinique sucht mich mit bewunderungswürdiger Wärme und Leidenschaft, die aus vollem Herzen kommt, eines Besseren zu belehren. Es war geradezu rührend, wie viele Argumente er vorbrachte, um zugunsten unseres Vaterlandes zu sprechen, unseres mörderischen Frankreich. Wir sind sehr spät nach Hause gekommen, und nachdem ich mich niedergelegt habe, denke ich an alles, was mir dieser große Franzose gesagt hat. Ich muß seinen Vorschlag ernsthaft überlegen. Frankreich, das sind nicht nur die Prostituierten, die Behörden, das Strafsystem, die Verwaltung auf den Inseln – es gibt auch noch das wahre Frankreich. Ich spüre es in mir. Und ich habe nicht aufgehört, es zu lieben. Wenn man sich vorstellt, daß jetzt überall in Frankreich die Boches sind! Mein Gott, wie müssen die Meinen darunter leiden! Welche Schande für alle Franzosen!
Als ich aufwache, sind der Esel, der Karren, das Schwein, Quiek-Quiek und Van Hue, der Einarmige, verschwunden.
»Na, Papillon, hast du gut geschlafen?« fragen mich Guittou und seine Freunde.
»Ja, danke.«
»Sag, möchtest du Kaffee mit Milch? Oder einen Tee? Kaffee und Butterbrot?«
»Danke.«
Ich esse und schaue ihnen bei der Arbeit zu. Julot bereitet je nach Bedarf die Gummimasse vor, weicht harte Stücke in warmem Wasser auf und formt sie dann zu einer geschmeidigen Kugel.
Petit-Louis richtet die Stoffetzen her, gibt sie in die Gummimasse hinein, und Guittou macht dann Schuhe daraus.
»Produziert ihr viel?«
»Nein. Wir schaffen gerade so viel, daß wir pro Tag zwanzig Dollar verdienen. Mit fünf Dollar bezahlen wir die Miete und unser Essen. So bleiben für jeden fünf Dollar Taschengeld, für Bekleidung und Körperpflege.«
»Verkauft ihr alles?«
»Nein. Manchmal muß einer von uns nach Georgetown hinuntergehen und die Schuhe und Besen auf der Straße verkaufen. Immer auf den Füßen und in praller Sonne, das ist hart.«
»Könnte ich das nicht übernehmen? Ich mag hier bei euch kein Schmarotzer sein. Ich möchte auch etwas beitragen zu unserem Essen.«
»Gut, Papi.«
Den ganzen Tag über bin ich in diesem Hinduviertel von Georgetown spazierengegangen. Allein. Ich sehe ein großes Kinoplakat und bekomme ein wahnsinniges Verlangen, zum erstenmal in meinem Leben einen Tonfilm in Farbe zu sehen. Ich werde Guittou bitten, abends mit mir hinzugehen. Viele Straßen von Penitence Rivers bin ich abgegangen. Das Benehmen dieser Leute gefällt mir riesig. Sie haben zwei Eigenschaften: sie sind sauber und sehr höflich. Dieser Tag in den Straßen des Hinduviertels von Georgetown war für mich noch eindrucksvoller als meine Ankunft in Trinidad vor neun Jahren.
Auf Trinidad, inmitten all der herrlichen Erlebnisse, die dadurch so herrlich waren, daß ich mich frei in der Menge bewegen durfte, gab es doch ständig die Frage: Eines Tages, in zwei, höchstens drei Wochen wirst du wieder aufs Meer hinaus müssen – welches Land wird dich aufnehmen wollen? Wird es ein Volk geben, das dir Asyl gewährt? Wie wird die Zukunft aussehen?… Hier ist es ganz anders. Ich bin endgültig frei, ich kann sogar, wenn ich will, nach England gehen und mich dort in die Truppen des freien Frankreich eingliedern. Was soll ich tun? Wenn ich mich dazu entschließe, mit de Gaulle zu gehen, wird man nicht sagen, daß ich es nur getan habe, weil ich nicht wußte, wohin? Im Kreis unbescholtener Menschen, werden sie mich da nicht wie einen Sträfling behandeln, der keine andere Zuflucht gefunden und sich ihnen eben deswegen angeschlossen hat? Es heißt, Frankreich ist in zwei Lager geteilt, Petain und de Gaulle. Wie kann ein Marschall Frankreichs nicht wissen, wo Ehren und Interesse seines Vaterlandes liegen? Falls ich eines Tages zu den freien Streitkräften gehe, werde ich da nicht später gezwungen sein, auf Franzosen zu schießen?
Hier wird es schwer sein, sehr schwer, sich eine ordentliche Existenz zu schaffen. Guittou, Julot und Petit-Louis sind weit davon entfernt, dumme Leute zu sein, und arbeiten für lumpige fünf Dollar pro Tag. Ich muß zuerst einmal lernen, in Freiheit zu leben. Seit 1931 – und jetzt haben wir 1942 – bin ich ein Gefangener. Ich kann einfach nicht gleich am ersten Tag meiner Freiheit mit allen diesen unbekannten Dingen zurechtkommen. Ich kenne nicht einmal die ersten Probleme, die sich für einen Mann ergeben, der am Anfang eines Lebens steht. Ich habe noch nie mit eigenen Händen gearbeitet. Ein ganz wenig nur, als Elektriker. Der
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