Papillon
»Sag Papillon, was er zu tun hat, von den dreien hat es ja noch keiner versucht.«
»Heute abend kommt die Ebbe sehr früh«, erklärt uns daraufhin der Mann. »Sie dauert drei Stunden. Bei Einbruch der Nacht, gegen sechs, kannst du mit einer starken Strömung rechnen, die dich in drei Stunden mindestens hundert Kilometer weit bringt, fast bis an die Mündung. Falls du anhalten mußt, tu es nicht vor neun. Dann mußt du unter einem Baum im Busch die sechs Stunden Flut abwarten, bis drei Uhr früh. Aber fahr nicht gleich weiter, die Flut geht nämlich nicht so schnell zurück. Fahr so um halb fünf in die Strommitte.
Da hast du noch eineinhalb Stunden bis Tagesanbruch und kannst noch fünfzig Kilometer zurücklegen.
Diese eineinhalb Stunden sind deine Chance. Um sechs Uhr früh, sobald es hell wird, stichst du in See.
Selbst wenn dich die Wachtposten dann sehen sollten, können sie dich nicht mehr verfolgen, weil sie die Sandbank an der Mündung erst zu Beginn der Flut erreichen. Sie kommen nicht durch, und du bist längst darüber hinaus. Diesen Vorsprung mußt du haben, falls sie dich entdecken sollten, der rettet dir das Leben.
Das Boot hier hat nur ein Segel, was hattest du auf der Piroge?«
»Ein Segel und einen Klüver.«
»Das Boot ist schwer, es könnte gut noch zwei Segel vertragen, eines als Vorstagsegel am Fuß des Mastes, ein zweites zum Flottmachen des Schiffes. Stich mit vollen Segeln ins Meer und schneide die Wogen, sie sind an der Mündung immer sehr hoch. Befiehl deinen Freunden, sich auf den Boden zu legen, damit du mehr Stabilität bekommst, und behalte die Pinne fest in der Hand. Fixiere die Schote, die Leine, mit der du das Segel hältst, nicht an deinem Bein, sondern laß es durch den Ring laufen, der eigens dazu im Boot ist.
Leg es mit einer Schlinge um dein Handgelenk. Wenn du mit dem Wind eine hohe Woge ankommen siehst und du legst dich, auf die Gefahr hin, umzukippen, zur Seite, lockere alles, und du wirst sehen, daß dein Boot auch ohne dein Zutun wieder ins Gleichgewicht kommt. Ist das vorüber, dann zieh das Segel nicht an, sondern laß es flattern und trachte nur, mit dem Vorstagsegel und dem Focksegel vor dem Wind zu bleiben.
Nur bei ruhiger See hast du Zeit, das Segel zu reffen und es rasch wieder einzurichten, ehe du es neu aufziehst. Dein Kleiner da soll das machen. Kennst du die Route?«
»Nein, ich weiß nur, daß Venezuela und Kolumbien im Nordwesten liegen.«
»Stimmt. Aber gib acht, daß du nicht an die Küste zurückgetragen wirst, Holländisch-Guayana liefert Entsprungene aus, Englisch-Guayana auch. Trinidad liefert sie nicht aus, aber es zwingt sie, nach vierzehn Tagen abzureisen. Venezuela liefert einen aus, nachdem man ein oder zwei Jahre als Straßenarbeiter abgedient hat.«
Ich lausche mit allen Poren. Er erzählt, daß er von Zeit zu Zeit zu entkommen sucht, aber als Leprakranker ebenso ungerührt zurückgeschickt wird. Er ist niemals weiter gekommen als bis Georgetown in Englisch-Guayana. Seine Lepra ist nur an den Füßen zu erkennen, deren Zehen sämtlich abgefallen sind. Er geht barfuß. Allerheiligen fordert mich auf, alle Ratschläge des Mannes zu wiederholen, und ich tue es, ohne mich ein einziges Mal zu irren.
»Wie lange brauchst du, um ins offene Meer zu kommen?« fragt mich der Furchtlose Jean plötzlich.
»Ich muß drei Tage nach Nordnordost segeln. Die Abtrift eingerechnet, wird das beinahe Nordnord ergeben.
Am vierten Tag werde ich nach Nordwest drehen, um direkt nach Westen zu halten.«
»Bravo«, sagt der Aussätzige. »Ich bin das letztemal nur zwei Tage Nordost gefahren und auf die Art nach Englisch-Guayana gekommen. Nach drei Tagen Norden kommst du nördlich an Trinidad oder Barbados vorbei, bist unversehens auf der Höhe von Venezuela und kannst Curacao oder Kolumbien anpeilen.«
»Für wieviel hast du ihm dein Boot verkauft, Allerheiligen?« fragt der Furchtlose Jean.
»Dreitausend«, sagt Allerheiligen. »Ist das teuer?«
»Nein. Ich frage auch nicht deswegen, nur um es zu wissen. Kannst du das zahlen, Papillon?«
»Ja.«
»Bleibt dir dann noch etwas?«
»Nein, es ist alles, was wir haben. Genau die dreitausend, die mein Freund Clousiot bei sich trägt.«
»Ich gebe dir meinen Revolver, Allerheiligen«, sagt der Furchtlose Jean. »Ich möchte den Burschen da helfen. Was gibst du mir dafür?«
»Tausend Franc«, antwortet Allerheiligen. »Ich möchte ihnen auch helfen.«
»Danke für alles«, sagt Maturette mit einem Blick
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