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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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sich die Flut bemerkbar. Wir gleiten schnell dahin und spüren, wie die Strömung stärker wird und uns immer rascher vorantreibt. Sechs Stunden später sind wir ganz nahe an der Insel. Leicht rechts von der Mitte ist sie aufgetaucht, ein mächtiger grauer Fleck, und nun liegt sie vor uns, ein wuchtiger Landblock. »Da ist sie«, sagt der Bretone leise. Wir halten darauf zu. Die Nacht ist nicht sehr dunkel, trotzdem kann man uns wegen des Nebels, der bis knapp über dem Wasser schwebt, von etwas weiter weg nur schwer sehen. Allmählich heben sich die Felsen der Insel deutlicher ab, und der Bretone steigt in seine Piroge um, die sich rasch von der unseren entfernt.
    »Viel Glück!« ruft er uns leise zu.
    »Danke.«
    »Keine Ursache.«
    Unser Boot, jetzt nicht mehr von dem Bretonen gesteuert, treibt der Quere nach auf die Insel zu. Ich versuche es herumzudrehen, aber bei der Strömung gelingt mir das schlecht. Wir geraten seitlich in die über das Wasser hängende Vegetation und fahren, obwohl ich mit dem Ruder nach Kräften bremse, so hart auf, daß unsere Nußschale total zerschellt wäre, wenn wir anstatt in Laub und Zweigen auf den Felsen gelandet wären. Maturette springt ins Wasser, zieht das Boot hinter sich her, und wir gleiten unter ein dichtes Pflanzendach. Er reißt das Boot an Land, und wir binden es fest. Dann trinken wir einen tüchtigen Schluck Rum, und ich klettere allein die Böschung hinauf. Die beiden andern bleiben im Boot sitzen.
    Mit dem Kompaß in der Hand marschiere ich, nachdem ich mehrere Zweige geknickt und an verschiedenen Stellen Zipfel von mitgenommenen Mehlsäcken befestigt habe, tiefer in das Eiland hinein. Plötzlich sehe ich ein Licht, unterscheide drei Strohhütten und höre Stimmen. Ich gehe weiter. Da ich nicht weiß, wie ich mich bekanntmachen soll, beschließe ich, irgendwie auf mich aufmerksam zu machen. Ich zünde eine Zigarette an. Die Flamme leuchtet auf, und sofort springt mir bellend ein kleiner Hund entgegen und geht auf meine Beine los. Wenn er nur nicht auch Lepra hat, denke ich. Idiot! Hunde können doch nicht Lepra kriegen …
    »Wer ist da? Du, Marcel?«
    »Nein. Ein Mann auf der Flucht.«
    »Was willst du hier. Uns bestehlen? Glaubst du, wir haben so viel?«
    »Nein. Ich brauche Hilfe!«
    »Umsonst oder gegen Bezahlung?«
    »Halt die Schnauze, Sumpfeule!« sagt ein anderer.
    Vier Schatten treten aus den Strohhütten.
    »Immer sachte, mein Freund … Ich wette, du bist der Mann mit dem Karabiner. Wenn du ihn bei dir hast, leg ihn weg. Hier hast du nichts zu fürchten.«
    »Ja, ich bin der. Aber ich habe den Karabiner nicht mit.«
    Ich gehe auf die Leute zu. Es ist zu dunkel, ich kann die Gesichter nicht sehen. Ich strecke die Hand aus.
    Niemand ergreift sie. Zu spät kapiere ich, daß man diese Geste hier nicht kennt. Man will mich nicht anstecken.
    »Gehen wir in die Hütte«, sagt Sumpfeule. Das Loch ist von einer Öllampe beleuchtet, die auf dem Tisch steht.
    »Setz dich.«
    Ich setze mich auf einen Strohstuhl ohne Rückenlehne. Sumpfeule zündet noch drei Öllampen an und stellt sie vor mich auf den Tisch. Der Schmauch dieser Kokosöllampen stinkt atembeklemmend. Ich sitze, die andern fünf stehen, ich kann ihre Gesichter noch immer nicht sehen. Meines wird von den Lampen beleuchtet, die sie mir genau in Augenhöhe gestellt haben.
    »Du gehst ins Gemeindehaus, Aal, und fragst, ob wir ihn hinbringen sollen«, sagt der Mann, der vorhin Sumpfeule gebot, die Schnauze zu halten. »Bring uns rasch Antwort, vor allem, wenn Allerheiligen damit einverstanden ist. Hier kann man dir nichts zu trinken anbieten, außer du möchtest Eier schlürfen.« Er stellt einen Korb mit Eiern vor mich hin.
    »Nein, danke.«
    Rechts, ganz in meiner Nähe, setzt sich einer von ihnen nieder, und ich sehe zum erstenmal im Leben das Gesicht eines Leprakranken. Es ist furchtbar, und ich muß mir Mühe geben, mich nicht abzuwenden oder zu zeigen, welchen Eindruck es auf mich macht. Die Nase ist ganz ausgehöhlt, ein schwarzes Loch mitten im Gesicht, wie ein Zweifrancstück so groß. Seine Unterlippe ist zur Hälfte zerfressen, man sieht drei nackte lange gelbe Zähne aus dem Knochen des Oberkiefers hervortreten. Er hat nur ein Ohr. Die Hand, die er auf den Tisch legt, ist mit einem Verband umwickelt. Es ist die rechte. Mit den beiden Fingern, die ihm an der linken noch geblieben sind, hält er eine lange dicke Zigarre. Sicherlich hat er sie selbst verfertigt, aus einem unausgereiften Tabakblatt,

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