Papillon
nicht verstehe. Es sieht aus, als überlegten sie beide. Dann stehen sie auf und gehen noch einmal hinaus. Ich überlege: Soll ich fort, bevor sie wiederkommen, oder soll ich bleiben? Wenn sie die Absicht haben, mich anzuzeigen, läuft das auf dasselbe hinaus. Und wenn ich fortlaufe, wird man mich sehr bald finden. In dieser Gegend da gibt es keine dichte »Selva«, keinen Dschungel, keinen Busch, und die wenigen Straßen, die in die Stadt führen, sind schnell und leicht zu überwachen. Ich will also lieber alles dem Schicksal überlassen, das mir bis jetzt nicht gerade feindlich gesinnt war.
Die beiden Nonnen kommen lächelnd wieder, und die Irländerin fragt mich, wie ich heiße.
»Enrique.«
»Gut, Enrique, Sie kommen mit uns in das Kloster, in das wir fahren, es liegt acht Kilometer vor Santa Marta.
Bei uns im Wagen haben Sie nichts zu befürchten. Sprechen Sie nicht, dann werden alle glauben, daß Sie ein Arbeiter aus dem Kloster sind.«
Die Nonnen bezahlen für alle, auch für mich. Ich kaufe mir eine Stange Zigaretten zu zwölf Paketen und ein Feuerzeug samt Zündschwamm. Während der ganzen Fahrt richten die Schwestern kein Wort an mich, und ich bin ihnen dankbar dafür. Auch dem Kutscher fällt es nicht auf, daß ich seine Sprache schlecht beherrsche. Gegen Abend halten wir vor einer großen Herberge. Dort steht ein Autobus mit dem Schild »Rio Hacha – Santa Marta«. Ich verspüre Lust, mit ihm weiterzufahren, gehe zu der Irländerin und sage ihr, was ich vorhabe.
»Das ist sehr gefährlich für Sie«, meint sie ernst, »bis Santa Marta fahren wir an mindestens zwei Polizeiposten vorbei, die von den Fahrgästen eine ›Cedula‹, eine Identitätskarte verlangen. In unserem Karren kann Ihnen das nicht passieren.«
Ich bedanke mich herzlich. Die Angst, in der ich schwebte, seit sie mich entdeckt haben, ist verschwunden.
Im Gegenteil, ich betrachte es als ein unerhörtes Glück, den frommen Frauen begegnet zu sein. Und tatsächlich, mit Einbruch der Nacht langen wir bei einem Polizeiposten an, auf spanisch heißt so was »Alcabale«. Ein Autobus von Santa Marta nach Rio Hacha wird eben inspiziert. Ich habe mich im Karren auf den Rücken gelegt, mir den Strohhut über das Gesicht geschoben und stelle mich schlafend. Eines der kleinen, ungefähr achtjährigen Mädchen lehnt seinen Kopf an meine Schulter und schläft wirklich. Der Kutscher hält genau zwischen dem Bus und dem Posten.
»Como estan por aqui? – Wie geht es Ihnen?« fragt die spanische Nonne.
»Muy bien, Hermana. – Sehr gut, Schwester.«
»Me alegro, vamonos, muchanos! – Das freut mich, fahren wir, Kinder!« Und wir traben seelenruhig weiter.
Um zehn Uhr abends kommen wir an den zweiten Posten. Die Straße ist hell beleuchtet. Zwei Reihen Wagen aller Sorten stehen hier und warten, die eine Reihe kommt von rechts, die unsere von links. In den Autos werden Koffer geöffnet, die Polizisten inspizieren den Inhalt. Eine Frau, die in ihrer Reisetasche wühlt, muß aussteigen. Sie wird auf die Polizeiwache geführt. Wahrscheinlich hat sie keine »Cedula«. In diesem Fall ist nichts zu machen. Die Fahrzeuge fahren eins nach dem andern ab. Da es zwei lange Reihen sind, können keine Ausnahmen gemacht werden, man muß sich dreinfügen und warten. Ich bin verloren. Vor uns steht ein ganz kleiner Autobus, gesteckt voll Menschen. Auf dem Dach hat er Koffer und große Pakete geladen. Auch hinten hat er ein dickes Netz voll mit Paketen. Vier Polizisten halten ihn an. Der Autobus hat nur vorn eine Tür. Alle müssen aussteigen, die Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm.
»Cedula! Cedula!«
Alle weisen eine Karte mit ihrem Photo vor. Niemals hat mir Zorillo etwas davon gesagt. Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich versuchen können, mir eine gefälschte »Cedula« zu verschaffen. Wenn ich glücklich an dem Posten vorüber bin, werde ich mir bestimmt eine verschaffen, koste es, was es wolle. Bevor ich von Santa Marta nach Baranquilla fahre, einem bedeutenden Ort an der atlantischen Küste mit zweihundertfünfzigtausend Einwohnern, wie es im Lexikon heißt, muß ich eine haben.
Mein Gott, dauert das lang mit dem Autobus! Die Irländerin wendet sich um: »Beunruhigen Sie sich nicht, Enrique.« Diese unvorsichtige Äußerung ärgert mich, der Kutscher hat sie bestimmt gehört.
Unser Karren fährt in das grelle Licht. Ich beschließe, mich aufzusetzen. Liegend könnte ich den Eindruck erwecken, mich verstecken zu wollen. Ich lehne mich an die
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