Para-Traeume
als hätte das wunderbare Wesen, dem sie dieses jüngste Werk gewidmet hatte, ihr diese Träume gebracht. Und nun hatte sie in diesem Bild endlich zum Ausdruck gebracht, was sie für ihn empfand. Er war ihre Erfüllung und ihr Halt, und sie fühlte sich sicher und beschützt an seiner Seite .
Während die Farbe trocknete, räumte Jennifer die Malutensilien beiseite und säuberte die Pinsel. Dann packte sie das Bild in Papier und befestigte es auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades, das hinter dem Haus stand. Mister Barlow würde hocherfreut sein, wenn sie ihm das Gemälde schon heute vorbeibrachte.
Sie fuhr die Brock Street hinauf, die immer steiler werdend den Marstenhügel emporführte. Schweiß lief Jennifer in feinen Rinnsalen von der hohen Stirn, als sie endlich am Tor des Zaunes anlangte, der das weitläufige Grundstück des alten Hauses umfriedete. Es stand einen Spaltweit offen, und sie fuhr hindurch.
Und dann, auf halbem Weg zum Haus hin, blieb sie plötzlich stehen.
Was tue ich hier eigentlich?
Die Frage tauchte wie aus Nebeln in ihr auf. Und zugleich spürte sie sich ergriffen von der alten Furcht, die sie immer schon verspürt hatte, wenn sie an diesem Haus vorbeigekommen war.
Wie immer kam es ihr auch jetzt viel weniger wie ein altes Gebäude vor, das dringend der Renovierung bedurfte, sondern mehr wie etwas Lebendes, das von einer finsteren Seele erfüllt war. Etwas, das durch die Risse des Verputzes stinkenden Atem ausstieß, der einen vergiften konnte, wenn man dem Haus auch nur nahekam. Und die ewig dunklen Fenster, sie schienen Augen zu sein, durch die nicht jemand herausstarrte, sondern die selbst starrten .
Jennifer legte den Rest der Strecke zurück.
Die Furcht verschwand. Versank wie ein Stein in dem, was Jennifers Denken wieder überflutete.
Am Haus angelangt, nahm sie das eingepackte Bild und trat in die Schatten, die zu jeder Zeit des Tages die Veranda des Hauses mit Zwielicht füllten.
Barlow mußte ihr Kommen längst bemerkt haben, denn er öffnete die Tür, noch bevor sie den schweren Messingring gegen das Holz geschlagen hatte.
»Ich freue mich, Sie zu sehen, Jennifer. Treten Sie ein.«
Der alte Mann wies mit einladender Geste in die Dunkelheit, die jenseits der Tür wie eine feste Substanz lag und erst dann ein Sehen erlaubte, als Jennifer sie betreten hatte.
Sie fröstelte, als sie sich von den Schatten verschlungen fühlte, doch auch diese Empfindung verlor augenblicklich alle Bedeutung.
»Ich sehe, Sie haben mein Bild mitgebracht«, sagte Barlow, während er seinen Gast durch den Korridor und schließlich ins Wohnzimmer geleitete.
»Ja, ich wollte Sie nicht länger warten lassen als unbedingt notwendig«, erwiderte Jennifer lahm. Für einen Unbeteiligten mußten ihre Worte widerwillig klingen. Sie selbst jedoch dachte nicht einmal wirklich über ihren Sinn nach.
»Ich weiß«, sagte Barlow, und sein Lächeln war das eines einsamen alten Mannes, der sich über unerwartete Gesellschaft freut.
»Darf ich es mir ansehen?« fragte er.
»Natürlich.«
Er nahm es und packte es aus. Dann stellte er es gegen eine freie Stelle der Wand und trat drei Schritte zurück.
»Es ist noch schöner, als ich es erwartet hatte«, meinte er dann voll ehrlicher Bewunderung. »Sie sind eine große Künstlerin.«
Jennifer lächelte starr. »Danke, Mister Barlow. Sie beschämen mich.«
Ihr Fuß berührte etwas Weiches. Sie senkte den Blick und sah eine tote Ratte, deren graues Fell dunkel verkrustet war.
»Oh, verzeihen Sie«, sagte Barlow erschrocken. Er bückte sich, hob den Kadaver auf und warf ihn in einen Papierkorb.
»Das macht doch nichts«, meinte Jennifer leichthin, während ihr etwas heiß und ätzend vom Magen her in der Kehle hochstieg und ihren Mund mit gallebitterem Geschmack füllte.
»Ich würde Ihnen gerne etwas anbieten«, sagte der alte Mann.
»Das ist nicht nötig, Mister Barlow.« Jennifer winkte ab.
»Erlauben Sie, daß ich etwas trinke?« fragte er.
»Natürlich.«
Wie ein Schatten war der alte Mann auf sie zu geglitten. Er stand so dicht vor ihr, daß Jennifer seinen plötzlich heftigen Atem im Gesicht spüren konnte.
Und in der nächsten Sekunde an ihrem Hals.
*
Lilith vernahm die Echos der Nacht in sich.
Und sie fühlte sich furchtbar und elend dabei.
Wie eine Diebin hatte sie sich davongeschlichen, und noch einmal sah sie im Geiste Raphael Baldacci schlafend daliegen. Das Bild hatte sich ihr regelrecht eingebrannt, und es schmerzte.
Wieder einmal
Weitere Kostenlose Bücher