Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
vors Gesicht und stapfte durch die zerbrochenen Resten wohlgefertigter Zivilisation.
Die Leute aus den Slums trennten hier den wiederverwendbaren vom übrigen Müll. Was an begünstigteren Orten der Erde die geneigten Verbraucher leisteten, dafür stand hier eine Bevölkerungsschicht zur Verfügung, die ihre Lungen und ihre Haut den merkwürdigsten Angriffen aussetzten. Im Gegensatz zu Vincents verlässlichem Schuhwerk trugen sie Zehensandalen, während sie in den Bergen von Müll herum kletterten. Plastik wurde von Karton getrennt, Gummi von Metallen und Essensreste von Tierkadavern. Vincent fragte sich ehrlich, wie man hier tagein tagaus arbeiten konnte, ohne regelmässig zu erbrechen. Doch die Leute trugen nur Tücher vor Mund und Nasen und einige lächelten, als er vorbeistapfte.
Es war mehr, als er ertragen konnte.
Endlich erkannte Vincent Ignacios Schwester, die sich über einen Sack bückte. Sie trug denselben Rock wie an dem Abend, als sie laut lamentierend die Polizisten vertrieben hatte. Vincent stieg über ein paar kaputte Reifen und stand vor ihr.
„Guten Tag“, sagte er, wohl wissend, dass sie noch nie ein Wort mit ihm gesprochen hatte.
Sie richtete sich auf, wischte sich mit dem Arm eine Strähne aus den Augen, die sich aus ihrem Kopftuch gelöst hatte und sah Vincent voller Erstaunen an. Der Staub des Tages hatte sich mit ihrem Schweiss vermischt und dunkle Rinnsale zogen sich über ihr Gesicht. Vincent wusste nicht, ob es das Licht der Sonne oder nur der Staub war, der ihre Haut so dunkel gegerbt hatte, doch sie schien um Jahre gealtert.
Als sie ihn nur ansah und nichts sprach, fragte er: „Wo ist Ignacio?“
Da fing sie an zu husten und wurde nur so geschüttelt. Sie krümmte sich und sank fast in die Knie auf den stinkenden Unrat, so dass Vincent nach ihr griff und sie mit beiden Armen festhielt. Da wandelte sich ihr Husten und er wusste nicht, ob sie schluchzte. Vincent hielt die von Elend und Krankheit geschüttelte Frau fest, während er ihr in seiner Muttersprache leise Trostworte zuflüsterte.
„Vincent“, rief da eine Stimme hinter ihnen und als er den Kopf wandte, sah er Ignacio. Er stand nur ein paar Arm eslängen entfernt, wo er eben auf die Erhöhung getreten war. Er hatte erheblich abgenommen und auch ihm zogen Schmutz und Staub ihre Linien ins Gesicht.
„Vincent!“ wiederholte er nur und trat langsam näher.
Seine Schwester hatte sich von ihrem Hustenanfall erholt und richtete sich auf, als Ignacio herantrat und Vincent in die Arme schloss.
„Oh Gott, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe!“ rief Ignacio und rieb sich die Augen, während er in sein gewohntes Grinsen fiel.
„Ich habe mich immer gefragt, wie es dir geht und deiner Familie“, erwiderte Vincent gerührt. Es schnitt ihm ins Herz zu sehen, was aus dem Wirt und seiner Familie geworden war. Ehedem hatte Ignacio auf etwas blicken können, was ihn mit Stolz erfüllte. So bescheiden die improvisierte Taverne im Slum gewesen war, so war sie doch sein Werk. Müll zu sammeln bedeutete für ihn einen Abstieg.
„Na“, erwiderte Ignacio gedehnt. „Wo hast du gesteckt in all den Monaten?“
„Ich bin erst verhaftet worden, dann des Landes verwiesen, dann war ich in meiner Heimatstadt und nun bin ich wieder hier. Paraguay wird mich nicht so leicht los!“ sagte Vincent und versuchte sich in einem Lächeln.
„Für was bist du denn verhaftet worden?“ fragte Ignacio entsetzt.
„Weil ich mich hier in Chacarita zu sehr eingemischt habe. Ich war den Behörden offensichtlich ein Dorn im Auge“, erklärte dieser.
Ignacio schüttelte den Kopf. „Es ist einfach nichts zu machen. In diesem Land dreht sich alles im Kreis. Du weisst schon, wie auf den Jahrmärkten die Karussells, nur dass wir keine Musik gespielt bekommen. Du fängst etwas an, es passt den Behörden nicht und sie nehmen es dir weg. Wenn du etwas Neues anfängst, so geht es wieder los, immer im Kreis, bis du dich zu Grunde gerichtet hast. Was soll aus einem wie mir werden? Jetzt sammle ich Müll, aber unter der Diktatur habe ich fast dasselbe getan. Nichts ist anders, nichts, nur mieser geht es mir mit jedem Tag. Immer mieser geht es mir!“ Ignacio rieb sich die schmutzige Stirn und sah seine Schwester an, die neben Vincent stand und auf den Fluss starrte.
„Wo sind denn Ihre Kinder, Señora?“ fragte Vincent Ignacios Schwester.
An ihrer Stelle antwortete ihr Bruder: „Die streunen hier rum. Manchmal helfen sie ein
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