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Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)

Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)

Titel: Paradies. Doch kein Himmel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthea Bischof
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zweite Scherge mit den Knien gegen Vincents Rücken, so dass er nicht ausweichen konnte, während der Taschenlampenmann sein Werkzeug hervorholte. Es waren kleine Hölzchen, die an Zahnstocher erinnerten.
    Vincent sank das Herz.
    Den ersten der Stocher trieb er ihm mit einem breiten Hammer unter den Nagel des Zeigefingers der rechten Hand. Vincent brüllte. Es gab keinen Grund, sich zurückzuhalten. Je mehr er sich hören liess, umso grösser war seine Chance, irgendwie hier herauszukommen. Vielleicht sollte er versuchen, die ganze Strasse zusammenzuschreien.
    „Wo ist Consuelo?“ widerholte der Mann aus dem Dunkeln.
    Vincent atmete schwer und das zweite Hölzchen trieben sie unter seinen Ringfingernagel. Im Brüllen, das er ausstiess und das ihm die Illusion verschaffte, den Schmerz lindern zu können, fühlte er, wie das warme Blut hervorquoll und über die Schnüre sickerte. Er roch den leichten Geruch von Eisen und Übelkeit stieg in ihm auf. Sein Atem ging rasselnd, als er versuchte, sich zurück sinken zu lassen, doch er lehnte sich nur gegen die Knie des Taschenlampenmanns.
    Vincent blinzelte unvermittelt, als plötzlich das Licht eingeschaltet wurde. Aus nackten Birnen ging ein gelbliches Licht hervor und liess die Mansarde noch heruntergekommener aussehen als bei Tag. Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Gestalt zu erkennen, die vor ihn trat.
    Es war ein Mann etwa Mitte der Vierzig. Über seiner Stirne hatte sich das Haar gelichtet, aber an den Schläfen wuchs es dicht und kräftig, nur von einzelnen weissen Strähnen durchzogen. Seine Haut war grobporig und ziemlich gebräunt, der schwarze Bartschatten schimmerte bläulich um das breite Kinn. Starke Falten zeichneten die Linien von seinen Nasenflügel bis hinab zu den Mundwinkeln, sein Mund war breit und die Lippen hatten eine Färbung ins Violette. Mehrere Falten kerbten sich in das dicke Fleisch über den geschweiften dichten Brauen, ohne dass er die Stirn gerunzelt hatte. Es war ein unauffälliges Gesicht, weder sympathisch noch abstossend. Eher schien ihm eine grobschlächtige Nettigkeit eigen zu sein. Doch blickte Vincent in die Augen und sie waren so bar jeden Gefühls wie Vincent es noch nie gesehen hatte. Wie eisiger Stahl durchdrang ihn die Kälte des Mannes, dass es ihm den Atem zu rauben schien.
    Es war der Mann, der sich den Namen el Aniquilador erworben hatte. Es war Marcial.
    Vincent rang nach Luft, als das nächste Hölzchen in seinen Daumen geschlagen wurde. Er schrie und zerrte vergeblich, um seine Hand zu befreien und Speichel floss aus seinen Mundwinkeln, als er wie im Krampf die Zähne aufeinander biss, das Gesicht in eine Maske der Peinigung verzerrt. Als die Schläge aufhörten, wurde der Schmerz konstant und Vincent atmete schwer. Es war ihm, als liefen Tränen über seine Wangen, doch er wusste nicht woher. Der Taschenlampenmann riss an seinem Haar, so dass er aufschauen musste. Er blickte zu dem unauffälligen Mann, der nach Consuelo gefragt hatte. Es war Verachtung, die dieses Gefühl der Kälte auslöste. Tiefste Menschenverachtung.
    Wie war es möglich? War er denn selbst kein Mensch?
    Vincent sah Rodrigo Marcial an und zum ersten Mal verstand er Consuelo und ihre Angst.
    „Sieh mich an, du miese Kreatur“, sagte Marcial in einer fast freundlichen Stimme. Hypnotisch fesselte er Vincents Blick an sich und mit einer kleinen Bewegung der Hand wies er den Schergen an, die Hölzchen unter seinen Nägeln zu bewegen.
    Vincent wand sich und schrie, doch sein Blick blieb auf Marcials Gesicht gerichtet, während der Schmerz ihm den Magen umdrehte und der Taschenlampenmann seinen Kopf festhielt, dass er den Blick nicht abwenden konnte.
    Vincent sah in etwas, was jenseits des Menschlichen lag. Es bewohnte den menschlichen Leib wie ein Parasit, es bediente sich des Wirts und saugte ihn aus.
    Doch es selbst war nie menschlich gewesen.
    Es kannte nicht des Menschen Wahrheit und Zukunft,
    es kannte weder dessen Herkunft noch dessen Bestimmung. Es k annte nur das Nichts. So war ihm aus seiner Eifersucht auf des Menschen Bestimmung das Vernichten einzig hold. Es war aus dem Nichts geboren, es hatte sich abgeteilt aus dem Ganzen, es hatte sich gegen die Schöpfung gestellt, es war bereit, sich in ewige Verdammnis zu stürzen, konnte es nur so viele als möglich mit sich reissen. Es war wirklich böse.
    Doch dieses Vernichtende war nicht der Leib, den es bewohnte, es war nicht die Seele, derer verlorenen Begierden es sich noch bediente.

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