Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
beschäftigt.
„Kann ich dich mal was fragen?“ sagte er spontan, als sie im Gang an ihm vorbei ging.
„Um was geht es denn?“ erkundigte sie sich, die Unterlagen von einem Arm auf den anderen balancierend.
„Nicht mein Gebiet“, erklärte er vage und ging voraus in sein Büro, wo er die Tür schloss, als Patricia eingetreten war.
„Was ist nicht dein Gebiet?“ fragte Patricia, inzwischen ziemlich neugierig.
„Abtreibungen“, erwiderte Vincent, als sie sich setzten.
Da sie die Brauen bis kurz unter den Haaransatz hochzog, führte Vincent aus, dass er sowohl von einigen Tagen beim Waisenhaus in Concepcion, als auch von Herrn Cevas um eine entsprechende Hilfeleistung gebeten worden war. Dies wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, dass die Heilsarmee, die in Asunción ihre Niederlassung hatte, sich dafür nicht zuständig sah. Der Eingriff war in Paraguay illegal, wenn das Leben der Mutter nicht in Gefahr war. Deshalb verstarb ein Viertel der Mädchen, die eine illegale Abtreibung vornehmen liessen, an deren Folgen.
Vincent erklärte Patricia, dass er nicht beurteilen könne, ob es aus humanitärer Sicht geboten sei, von einem solchen Schritt abzuraten, oder menschenwürdiger, einfach einen Arzt zu suchen und ihn zu entlohnen.
„Im Falle einer Dreizehnjährigen ist das sicher besser!“ erklärte Patricia, immer noch mit leicht erhöhten Brauen. Dem stimmte Vincent zu. Es war eine himmelschreiende Ironie, dass das Mädchen aus dem Städtchen Concepcion stammte. Sie war keine Waise, sondern nur zu ihm gekommen war, weil sie gehört hatte, der Rote Ring sei dort beschäftigt.
„Sie ist auf dich zugekommen, so einfach mir nichts dir nichts, weil du grade in der Stadt warst?“ fragte Patricia, indem sie sich vorbeugte.
„Kein spassiger Moment, sage ich dir“, meinte Vincent darauf.
„Mich hat noch nie jemand um sowas gebeten und ich bin von hier und ausserdem eine Frau!“ stellte sie fest.
„Die nächste Person werde ich zu dir schicken“, erklärte er darauf und erkundigte sich nach allfälligen Ärzten, die er in der Sache angehen könne, da im Allgemeinen Frauen mit gynäkologischen Themen betraut wurden, denn sie genossen eher das Vertrauen der weiblichen Bevölkerung. Patricia versprach, ihm einige Adressen herauszuschreiben und verliess kopfschüttelnd den Raum.
Nun raffte Vincent seine Dokumentation für das Waisenhaus von Concepcion zusammen, fuhr dann kurz in seine Wohnung, um ein paar Kleider zum Wechseln und eine Zahnbürste einzupacken und machte sich auf den Weg nach Norden. Da keine direkte Schnellstrasse von Asunción nach Concepcion führte, hatte Vincent den langen Weg zu nehmen. Die vierhundert Kilometer durch die marschigen Lande des Chaco zogen sich in die Länge, besonders, da er erst nach fünf Uhr losgefahren war. Nun neigte sich der Abend, zu seiner Linken sank die Sonne, die dunstige Atmosphäre blutrot färbend. Das Radio spielte tapfer gegen das Klappern des Geländewagens an und Vincent hing seinen Gedanken nach, während die gleichförmige Landschaft an ihm vorbeizog. Er dachte sehnsüchtig an ein kühles Glas Bier, als der Fahrtwind ihm Staub in die Augen wehte.
Eine nicht zu enden wollende Ebene breitete sich vor ihm aus, eine weite, trockene Wald- und Graslandschaft, die nur abschnittsweise zur Viehzucht und kaum zum Ackerbau genutzt wurde. Wo Wasser vorkam, wuchsen dicht Gras und Bäume, doch über weite Strecken war das Land fast zur Steppe geworden. Das Salz im Grund war teils so stark, dass es die Vitalität des Bodens frass und die üppige Feuchte als Trockenheit erscheinen liess. Paraguay war das Land, das Vincent immer neue Rätsel aufgab. Es war nicht sein erster Auslandeinsatz. Er war in Westafrika gewesen und hatte kürzere Einsätze in Indien zu verbuchen. Beide Kulturen hatten ihm Fragen aufgegeben und sein hergebrachtes Wertesystem umgestürzt. Doch hier in Südamerika stiess er an die Grenzen seines Verstehens. Seine Fähigkeit, die Realität mit seinem Bewusstsein zu umspannen, versagte. Wie oberflächlich und illusorisch ein Urteil über ein Sozialsystem bleiben musste, sah er widergespiegelt in seiner Unfähigkeit, sich gegenüber den Menschen in Paraguay richtig und angebracht zu verhalten. Was immer vorfiel, geschah anders, als er es erwartet hatte und warf ihn in stummes Staunen. Staunen über die Vertraulichkeit der staatlichen Obrigkeit, über die Gewalt und über die Ablehnung Luz‘, die ihm als der Schlüssel zu seinem
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