Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
Da sie die Schule besonders herausragend abgeschlossen hatte, war es ihr gelungen, ausserhalb des Viertels eine Anstellung zu finden und sogar – ohne besondere Empfehlung – eine Beschäftigung beim Staat. Luz war offensichtlich stolz darauf, was sie erreicht hatte. Dass sie aber die Unbill ihrer Jugend und ihrer Nachbarn einem jeden vorwarf, der kein Nachbar war, machte sie harsch und unnahbar.
Vincent sprach von seiner Heimat, von zivilisatorischen Wundern und Wirren, bis sie beschlossen, das Lokal nun hinter sich zu lassen.
In einer Bar nahe dem Zentrum unterhielten sich Luz und Vincent über die Notwendigkeit, allen Bewohnern des Landes bedingungslos eine Möglichkeit zur Selbstversorgung zu gewähren. Es gäbe einfach keine andere Lösung, ein soziales System sei von Nöten, könne aber nie die Eigeninitiative ersetzen. Dann brach Vincent mit einer weiteren seiner Grundsätze und erzählte Luz von seiner Arbeit, von kleinen Hässlichkeiten und verstreuten Einzelheiten. Er sprach von dem kleinen schwangeren Mädchen, das nicht sagte, von wem das Kind sei. Sie sei so zerbrechlich und schmal, die Vorstellung einer Geburt wäre völlig unglaublich. Er wusste nicht, warum er es erzählte, doch es tat ihm wohl, dass Luz zuhörte.
Und dann brach eine andere Kraft aus ihm heraus und er stürzte sich förmlich auf Luz, küsste diesen dunklen Mund, der sich so fest anfühlte, so süss, so verführerisch fremd und doch so unendlich vertraut. Es kam über sie eine Macht, der zu verschliessen niemandem gelungen wäre, sie verschlagen sich im Dunkel de s nächtlichen Asunción ineinander und verloren in Rausch und Lust die Grenzen ihres Leibes.
Curdin Müller hatte Glück gehabt. Das ungünstige Zusammentreffen Vincents in La Chacarita war ohne Folgen für seine Organisation geblieben. Weder die Behörden noch sonst jemand hatte nachgefragt. Curdin atmete tief durch, als er den Fall als abgeschlossen betrachten konnte. Vincent ging ihm letztens aus dem Weg und entzog sich jedes persönlichen Gesprächs, teilte seine Ansichten nicht mit und sprach überhaupt wenig mit seinem Vorgesetzten und Kollegen. Es kränkte Curdin ein wenig, dass dieser ihn so wenig ins Vertrauen zog, sondern nur zu ihm kam, wenn ihm ein Fehler unterlaufen war. Dann jeweils kam Vincent an und schilderte zerknirscht irgendwelche misslichen Umstände, die ihn gezwungen hatten, etwas höchst Unkorrektes vom Stapel zu lassen.
Dennoch musste Curdin sich eingestehen, dass er seinem Kollegen nicht allzu viel vorwerfen konnte. Er wusste nicht, wie er selbst reagiert hätte, kannte sich aber als wenig heldenhaft im Nahkampf. Eine Strassenschlägerei hätte er selbst nicht bestanden. Zudem sprach Vincents unermüdlicher Einsatz für ihn, in Concepcion ebenso wie bei anderen Aufgaben. Waren es auch alltägliche Dinge, die er bestanden hatte, so hatte er sie doch in ungewöhnlicher Weise gelöst.
Es war ein neidvoller Blick, mit dem Curdin dem jüngeren Kollegen folgte, denn auch seine Rolle als Vorgesetzter konnte ihm nicht geben, was ihn Vincent ähnlicher gemacht hätte. Dieser war einfach souveräner. Er handelte, ohne sich vorher den Kopf zu zerbrechen und scherte sich um kein Reglement. Curdin seufzte und sah die Berichte durch, welche ihm zur Kontrolle oblagen und die er an die Zentrale weiterzuleiten hatte. Obgleich er insgeheim sogar manchmal froh war, nicht so viel mit den Schwierigkeiten ausserhalb seines geschützten Büros zu tun zu haben, so musste er doch die Anerkennung missen, welche seine Kollegen sich untereinander zollten, wenn sich jemand besonders bewährt hatte. Und besonders die Anerkennung, die Vincent auf sich zog, die fehlte Curdin. Ebenso wie dessen gutes Aussehen und sein gewinnendes Lächeln.
Curdin schob den Gedanken, was ihm alles hätte fehlen mögen, bei Seite und las den Bericht.
Bei seinem nächsten Aufenthalt in Concepcion traf Vincent die kleine Consuelo an. Nachdem er mit dem Architekten und dem Hausmeister die Änderungen an den Plänen durchgegangen war, traf er das Mädchen im Speisesaal. Sie war zart und schmächtig, hatte ein schmales Gesicht und wären nicht die langen Haare über ihre Schultern gefallen, hätte man sie fast für einen Knaben halten können. Die Augen gross aufgerissen stand sie vor ihm und sah ihn so voller Hoffnung und Verzweiflung an, dass sich die Verantwortung, die er in diesem Moment für sie übernahm, wie ein eiserner Ring um seine Brust legte.
„Sie haben gesagt,
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