Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
Reklamen beleuchteten flirrend die bebende, murmelnde Menge des Lebens. Einen Slum nannte man das Wohnquartier, eine Gegend des äussersten Elends und des Ekels. Eine Sammlung der durch die Maschen des Rechtmässigen gestürzten Menschen. Eine Szene des Verfalls.
Aber wie im Kompost die üppigsten Früchte treiben und nirgends so herrlich der Lotus blüht wie auf dem Mist, so täuschend war das Elend, so irreleitend die Armut.
Es schwelte unter dem Hunger und dem Dreck eine Lust zur Liebe, eine Gier nach Leben und ein Wille zum Bestehen. Nirgends, nein nirgends war das Leben stärker als an den Grenzen der Unerträglichkeit, am Rande des Seins.
Luz‘ Wohnung lag still, nur trübe brannte in Licht aus dem planenbezogenen Fenster und das unbestimmte Flimmern eines Fernsehers schimmerte heraus. Vincent klopfte leise an die Tür. Sein Magen zog sich zusammen und Sehnsucht und Gier überfielen ihn in Leib un d Seele.
„Luz!“
Keine Antwort drang zu ihm heraus. Stille herrschte darin und niemand schien seiner zu achten.
Er klopfte wieder, doch nichts tat sich, die Tür öffnete sich nicht und alles blieb ruhig.
Vincent legte die Stirn an die Tür und wartete, sehnsuchtsvoll, bewegt, willens jedes böse Wort, das er gegen Luz gesagt oder selbst gedacht hatte, zurück zu nehmen.
„Luz!“
„Sag, hast du ein Problem?“ fragte da eine Stimme hinter ihm.
„Nein, lass mich in Ruhe“, erwiderte er und wandte sich ab. Enttäuschung bis zur Bitternis vergifteten seinen Mund und sein Ärger entflammte ob der Unerreichbarkeit der wilden, schönen, hasserfüllten Luz.
In seiner Wohnung griff sich Vincent ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank und trat an seinen Computer, um nach seinen Nachrichten zu sehen. Eine irrwitzige Hoffnung regte sich in ihm, sie könnte ihm geschrieben haben. Doch stehend über die Tastatur gebeugt sah er, dass da nur ein paar Allerweltsangebote und wohlbekannte Neuigkeiten waren und – er erstaunte – eine Nachricht von Dr. N. Gerecke aus Garkhausen.
Sehr geehrter Herr Thal
Ungeachtet unseres Urteils sind mir Ihre Einwände gegen Transmar in Erinnerung geblieben. Ich kann nicht allein darüber entscheiden, ob die Firma weiter zu unseren Lieferanten gehören wird oder nicht, aber ich kann auf die Entscheidung Einfluss nehmen. Wenn Sie mich anrufen wollen?
Ich bin gespannt, mehr von Ihnen zu erfahren. Sie können jederzeit anrufen, ich bin meist gut zu erreichen.
Freundliche Grüsse
N. Gerecke
„Ach sieh an!“, sagte Vincent laut in seiner leeren Wohnung und setzte sich.
Ungefragt lassend, was ihn dazu trieb, wählte er die Internettelefonnummer, die ihn nach Garkhausen verband. Es musste dort etwa halb sieben Uhr früh sein, aber wenn Dr. N. Gerecke gut erreichbar war, konnte sie seine trunkselige Abrechnung mit der Lebensphilosophie guter Menschen gleich mitbekommen!
„Hallo?“ meldete sich die erstaunte Stimme.
„Guten Abend“, sagte Vincent.
„Guten Morgen.“
„Störe ich Sie?“
„Nicht im Geringsten, es ist sechs Uhr und ich konnte nicht schlafen“, erwiderte sie herausfordernd.
„Naja, Sie würden den Anruf nicht annehmen, wenn es Sie stören würde. Für was steht eigentlich das geheimnisvolle N. zwischen Dr. und Gerecke?“ fragte Vincent und seine Stimme schwankte geringfügig.
„Sind Sie betrunken?“ fragte die weibliche Stimme mit der ihr eigenen Gründlichkeit.
„Das trifft’s wohl“, meinte Vincent.
„Hm. Dann finde ich es nett, dass Sie anrufen. Hätte es keinen besseren Zeitpunkt gegeben?“
„Warum? Ihre Nachricht habe ich jetzt bekommen. Wofür steht das N?“ beharrte er.
Es seufzte am anderen Ende. Dann sagte sie: „Das N. steht für Nuuk.“
„Nuuk. Was ist das denn für ein Name?“
„Nuuk ist die Hauptstadt von Grönland“, erklärte sie. „Und nein, ich stamme nicht aus Grönland. Ich stamme aus den Siebzigern und meine Eltern waren Hippies.“
Vincent lachte. Die Belustigung schüttelte ihn richtiggehend. „Besser als Polarkreis“, sagte er endlich.
„Wie Sie meinen. Warum rufen Sie eigentlich an?“ fragte Nuuk streng.
„Können wir einfach du sagen? Die europäischen Umgangsformen sind mir heute zu viel. Hallo Nuuk. Du wolltest etwas über Transmar erfahren. Ich kann dir sagen, was das Problem an denen ist: Sie haben auf mich geschossen, als ich mir das Firmengelände ansehen wollte. Aber das ist nicht alles. Sie ziehen hier die Nahrungsmittel ab. Sie gehen zu den Bauern, geben ihnen Soja zum
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