Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
vergitterten Zimmer eingeschlossen gewesen war. So hatte sie immer wieder getestet, ob sie durch die Gitterstäbe passen würde. Der Kopf war kein Problem gewesen, sich aber dann so zu drehen, dass es ihr gelang, sich durch die Lücke zu schieben, ohne über ein Stockwerk in die Tiefe zu stürzen, war schwierig gewesen. Aber mit Hilfe der Laken war es ihr gelungen und sie hatte nur eine kleine Schürfung am Arm: Indem sie um Gleichgewicht rang, war sie abgerutscht und gegen die Wand geprallt. Doch das heilte rasch.
Auf seine vielfältigen Fragen und Vorschläge, was sie denn nun wolle und wohin sie gerne ginge, erwiderte Consuelo Vincent nur einsilbig, sie wisse es nicht. Er schlug ihr allerhand Möglichkeiten vor, die ihm selbst attraktiv erschienen. Doch was er in seiner Jugend wohl heiss ersehnt hätte, interessierte sie nicht im Geringsten. Er hatte ihr vorgeschlagen, ihr in einem internationalen Bildungsprogramm einen Ausbildungsplatz zu verschaffen. Damit bot sich ihr die Möglichkeit, an verschiedenen Orten der Welt zur Schule zu gehen, Land und Leute kennenzulernen und einen ausgezeichneten Abschluss zu erlangen. Consuelo aber sagte, dann hätte sie nur Heimweh.
Des Weiteren schlug er ihr vor, ihr eine Pflegefamilie zu suchen, aber sie war entsetzt und bat ihn inständig, sie vor wohlmeinenden Menschen zu verschonen. Sie kenne ein paar von den Mennoniten und die würden sicher nicht mit ihr auskommen.
„Consuelo, wer kommt denn mit dir aus? Wo willst du hin?“ insistierte Vincent.
„Du kommst doch mit mir aus, oder Luz!“ bot sie an.
Sie sah nicht ein, dass dies keine Möglichkeit war. Es war ihr erster Aufenthalt in Asunción ein Moment der Freiheit gewesen, wie sie ihn zuvor noch nie erlebt hatte. Es war nicht nur die grosse Stadt, es war auch das Ausbleiben aller Beobachtung, das Wegfallen religiöser Richtlinien, die ihr eine Vorstellung gaben, was Selbstbestimmung überhaupt sein konnte. Sie hatte erkannt, dass Vincent ihr nicht begegnete wie ihre Mutter oder ihre Tante, auch nicht wie die Leute der religiösen Gemeinde, denn er sagte ihr nicht, was sie zu tun hatte, er fragte sie nur nach allerhand Dingen. Das tat sonst niemand. Dass er ihr immer wieder Dinge als gesetzt und rechtmässig oder unrechtmässig beschrieb, ging an ihr vorbei wie das Wort des Windes. Mit sanftem Widerstand ignorierte sie seine Bestrebungen nach einer ordnungsgemässen Lösung, denn sie wollte auf diese neuerworbene Freiheit nicht mehr verzichten. Sie hatte vom Baum der Erkenntnis genossen und es gab keinen Weg zurück ins Labyrinth des Gehorsams.
Vincent ahnte nichts von diesen Überlegungen hinter ihren schwarzen Rehaugen. Er ging davon aus, dass das arme Kind von den grausamen und traumatischen Erlebnissen verängstigt war und bemühte sich redlich, ihr ein Angebot für ihre Zukunft zu unterbreiten, das attraktiv war und ihr viele Wege offen hielt. Was sollte sie davon abhalten, ein Stipendium zu erlangen und vielleicht an einer guten Universität abzuschliessen? Dafür aber hatte sie wenig Gehör, sie wollte malen und spielte mit Rätselaufgaben und übte sich in mathematischen Herausforderungen auf seinem Computer. Schliesslich erfasste sie den Unterhaltungsgewinn des Internets für sich und verbrachte Stunden im Suchen nach allen möglichen Themen.
Nach mehr als einer Woche dieser Art aber setzte Vincent seinem Gast in aller Deutlichkeit auseinander, warum sie nicht bei ihm leben könne, dass sie sowohl eine Erziehung als auch eine Ausbildung brauche, die sie auf die Fährnisse des Lebens vorbereiteten. Consuelo war wie ein Knäul auf dem Sofa gelegen, nun setzte sie sich auf, nahm die elegante Haltung einer Dame ein, mit geradem Rücken, die Beine nebeneinander und leicht schräg gestellt und fragte: „Auf was soll mich den n wer vorbereiten, was ich nicht kenne, Vincent?“
Er starrte sie ein weiteres Mal entwaffnet an. „Dies ist ein Junggesellen-Haushalt, es gibt keine anderen Kinder oder Jugendlichen hier. Ist dir das nicht langweilig? Willst du keine Freundinnen?“
„Du kannst ja deine Freundin mitbringen“, meinte sie darauf. „Luz.“
„Die ist nicht meine Freundin“, sagte er.
„Aber vielleicht weiss sie, wo ich hingehen kann? Wenn ich dich hier so sehr störe…“, schlug sie vor, noch immer die Augen weitaufgerissen zu ihm blickend.
„Du störst mich nicht, Consuelo, du bringst mich in Schwierigkeiten. Das stört mich, sogar sehr, verstehst du?“ rief er aus.
„Und was ist mit
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