Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
genommen wurde und im Innenhof verschwand, blickte er ihr mit einer Empfindung des Verrats nach.
Vincent kam von einem Abend in Ignacios Taverne nach Hause, als ihn Nuuk anrief. Sie plauderte harmlos und gab sich Mühe witzig zu sein, doch der Kontrast zu seinem Besuch bei Ignacio klaffte in seinem Bewusstsein. Er war ihrer Weltsicht gewissermassen entfremdet, was sie unterhielt war ihm gleichgültig, denn es schienen ihm aufgesetzte Probleme zu sein, mit denen sie sich herumschlug. Vincent war erblindet für die nichtig-wichtigen Plänkeleien des luxusverwöhnten Mitteleuropas. Die simple Aufgabenstellung, Menschen satt zu bekommen stand in krassem Gegensatz zu der neuen Single eines Megastars oder den Herausforderungen, als grossstädtische Modernitätsikone für einen Triathlon zu trainieren. Das Gespräch plätscherte unergiebig dahin, doch ein eigentümliches Gurren in Nuuks Stimme liess Vincent aufhorchen. Während er sich zunächst gefragt hatte, was denn der Sinn ihres Anrufs war, dämmerten ihm allmählich die Umstände. Vincent fühlte sich fraglos geschmeichelt und versuchte nicht mehr, ihr Plaudern in irgendeinem Zusammenhang mit Transmar Import Export Ltd. oder globalen Umweltprobleme zu sehen. Die Sache lag wohl anders. Zum ersten Mal fragte er sich, wie die Frau anzusehen war, der diese Stimme gehörte.
„Was machst du denn für Sport?“ hauchte Nuuk mehr als dass sie sprach.
„Ich habe früher viel Bergsport gemacht, Ski oder Downhill und so. Aber hier gibt es keine Berge. Eigentlich mache ich kaum mehr etwas, fällt mir auf, jetzt da du fragst“, erwiderte er.
„Fehlt es dir denn nicht? Die Herausforderung?“
„Die Herausforderung ist hier Überleben, da muss man sich nichts anderes suchen. Du kannst dir vorstellen, die meisten Leute hier sind bewaffnet. Das kann einen manchmal nervös machen. Aber das Leben ist hier langsamer als in Europa. Man nimmt die Tage gemütlicher“, erklärte er.
„Du nimmst es gemütlicher, oder die Leute nehmen es gemütlicher?“ hakte sie nach.
„Ich würde nicht soweit gehen zu sagen, dass ich hier ein bequemes Leben führe, beim besten Willen nicht. Letzten s bin ich um drei Uhr nachts aufgestanden, um ein gestrandetes Kind einzusammeln. Acht Stunden Autofahrt für ein halbverhungertes kleines Mädchen. Danach hatte ich keine Lust mehr, durch die verstaubten Strassen zu joggen oder im Fluss zu schwimmen, wo man sich so herrliche Parasiten holen kann.“
Nuuk schwieg ein paar Augenblicke, bevor sie sagte: „Ok, jetzt bin ich beeindruckt. Du bist acht Stunden gefahren, um ein Kind zu suchen, das Hunger hatte? Konnte ihm niemand in der Nähe was zu essen geben?“
„Hm, Hunger war nicht ihr Hauptproblem“, bemerkte er.
„Was war denn ihr Hauptproblem?“
„Sie ist ein Missbrauchsopfer. Sie ist abgehauen. Dass sie nichts gegessen hat, war wohl eher eine Art Hungerstreik oder so“, erklärte er.
„Das ist schrecklich“, sagte Nuuk gedämpft. „Ich weiss nicht, ob ich damit umgehen könnte. Ich meine, wenn ich an deiner Stelle wäre.“
„Ich weiss nicht, ob ich so gut damit umgehen kann“, erwiderte Vincent und lachte ernüchtert. „Es ist einfach so. Ich habe keine Chance, zu bestimmen, was mich beschäftigt, ich tue, was auf mich zukommt. Ich meine, es gibt schon einen Plan, den wir verfolgen und Ziele, auf die wir hinarbeiten. Aber dann geschieht so viel völlig Unvorhersehbar und du rennst irgendeiner Kleinigkeit nach. Tagelang.“
„Dafür hast du aber eine ausgezeichnete Laune“, sagte sie und klang geradezu vorwurfsvoll.
„Soll ich mich erschiessen, um dich nicht zu deprimieren?“ schlug er vor.
„Oh, sei doch nicht gleich eingeschnappt, ich staune nur!“ gab sie zurück.
„Und wie läuft es mit den Biokraftstoffen?“ fragte Vincent, da es besser schien, das Thema zu wechseln. Da erzählte Nuuk viel über Professor Doktor Doktor Siegmar und seine Erkenntnisse über einen Hefebazillus, an dem sie fieberhaft arbeiteten. Die Ausführungen ergaben für Vincent aber wenig Sinn und ihr Reiz entzog sich ihm vollends, so dass er abschweifte und seine Gedanken ihn über alle Berge führten. Als Nuuk eine Pause einlegte, räusperte er sich und versuchte, sich etwas Geistreiches aus den Fingern zu saugen.
„Oh, ich rede wohl ein bisschen viel?“ fragte sie erschrocken.
„Nicht schlimm, aber Professor Doktor Doktor Siegmar ist dein Held, was?“ erkundigte er sich.
„Warum fragst du das?“ erwiderte sie
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