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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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tragen.«
    Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. »Ich habe sie nirgends gefunden«, sagte ich. »Können Sie sich vorstellen, dass er sie immer bei sich hatte?«
    »Bei David kann ich mir alles vorstellen«, sagte Frau Hemke. »Grüßen Sie ihn von mir.«
    »Das tue ich«, sagte ich und legte auf.
    Die Bibel.
    War Rosekast weniger ein Philosoph als ein merkwürdiger religiöser Fanatiker, der David irgendwie auf Umwegen ins Christentum geschleust hatte? Ein neunjähriger Junge, dachte ich, der mit der Bibel in der Tasche herumläuft, ist nicht nur seltsam, sondern unheimlich.
    Ich wollte zurückgehen und ihn geradeheraus fragen, wach auf, wach auf, wach auf – was war das für eine Geschichte mit dir und Rosekast und der Philosophie und diesem, wie nennen sie ihn, Gott?
    Ich war auf dem Weg zur Treppe, da sah ich, wie jemand die Halle durchquerte und ebenfalls auf die Treppe zuging, ohne mich zu sehen. Claas. Ich blieb stehen wie erstarrt. Er hatte mich nicht bemerkt, er stieg die Stufen mit seinen langen Beinen hinauf, er ging zügig, aber er rannte nicht, da war immer noch die Claas-eigene, kühle Ruhe in jedem seiner Schritte, die ich einmal geliebt hatte und die ich jetzt so hasste.
    »Claas!«, rief ich, leise, er hörte mich nicht. Ich rief kein zweites Mal. Ich blieb stehen.
    Ich musste ihn tausend Dinge fragen und konnte es nicht. Ich setzte mich wieder auf den Cafeteria-Stuhl. Ich wartete, dass er zurückkäme. Eine Stunde lang. Dann stand ich zum zweiten Mal auf, um zu David zu gehen. Um an seinem Bett mit Claas zu sprechen.
    Doch meine Füße, feige Verräter, trugen mich zum Ausgang, und ich fand mich in der Innenstadt von Rostock wieder. In den Blumenkästen blühten Blumen, durch die Einkaufsstraße flatterten die Möwen und die Tauben, am Figurenbrunnen spielten Kinder, jüngere Kinder als David. Die Innenstadt von Rostock ist übersichtlich, ich lief sie mehrfach ab, ehe ich mich in ein Café setzte, das noch offen hatte. Ich kehrte erst zur Klinik zurück, als der Frühlingstag sein Licht verlor und ich ziemlich sicher war, dass Claas nicht mehr bei David saß.
    Er saß nicht dort. David wartete allein auf mich, noch immer intubiert, noch immer still, und ich, noch immer oder eigentlich wieder in Grün, hielt wieder oder eigentlich noch immer seine Hand. Obwohl es eigentlich war, als hielte er die meine. Er war immer so viel stärker gewesen als ich. Halt mich fest, David, halt mich fest, damit ich nicht verlorengehe.
    So schlief ich ein, vornübergebeugt, den Kopf auf der Kante seines Bettes.

    Als ich aufwachte, war es draußen nicht mehr dämmerig, sondern dunkel. Die Nachtbeleuchtung der Station verbreitete zusammen mit den Geräten ein seltsames grünliches Kunstlicht, ein Licht wie in einem Science-Fiction-Film. Thorsten Samstag fiel mir ein. Er hatte längst Dienstschluss gehabt. Ich sah mich um, nur zur Sicherheit, doch der zweite Stuhl im Raum war leer. Das Beatmungsgerät pumpte zuverlässig und eintönig Luft aus und in Davids träumende Gestalt.
    Ich streckte mich, und dabei fiel etwas aus meiner Hand, das jemand mir im Schlaf zwischen die Finger gesteckt haben musste. Ein Zettel. Ich hob ihn auf und las ihn im Licht der schmalen Neonröhre über dem Kopfende des Bettes.
    Lovis.
    Ich war hier und wollte dich wecken. Du hast zu fest geschlafen.
    Wenn du immer noch irgendwo hingehen und reden willst, hol mich ab. Ich wohne schräg gegenüber der Klinik, du musst an dem Haus vorbei auf dem Weg in die Stadt.
    Thorsten.
    Auf der Rückseite des Zettels war ein rasch hingekritzelter Lageplan mit Straße und Hausnummer.
    Keine Telefonnummer. Ich musste selbst entscheiden, ob ich hinging oder nicht, ich konnte ihn nicht anrufen und sagen, lass uns lieber da und da in der Stadt treffen, oder was meinst du, lohnt es sich noch oder bist du inzwischen zu müde? Es war kurz vor zehn.
    »David«, flüsterte ich, »soll ich noch bei ihm klingeln? Was meinst du?«
    Aber David war, genau wie Rosekast, nicht hier, um Antworten zu geben.

    Das Haus war nicht schwer zu finden. Thorstens Wohnung befand sich ganz oben, unter dem Dach. Er sagte nichts durch die Sprechanlage, drückte nur den Summer und ließ mich hinein. Es gab keinen Fahrstuhl.
    Als er oben die Tür öffnete, sah ich hinter ihm einen Flur, der kaum breiter war als er selbst.
    »Eine kleinere Wohnung konntest du nicht finden?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf, das blaue Auge lächelte, das braune nicht. »Um ehrlich zu sein, ich

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