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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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habe danach gesucht. Das ist die kleinste Wohnung in der ganzen Stadt.«
    »Das Gegenteil eines Einfamilienhauses in einer netten Neubausiedlung«, sagte ich und dachte an Finns Eltern.
    »Ja, das Gegenteil. Ich habe das Haus verkauft.«
    »Oh«, sagte ich. »So … meinte ich es nicht. Ich wusste nicht …«
    »Natürlich nicht. Willst du kurz reinkommen? Ich ziehe mir nur eben eine Jacke über.«
    Er hielt ein Schnapsglas in der Hand und schien zu überlegen, wo er es abstellen sollte, denn es gab im Flur nichts außer ein paar Garderobenhaken.
    »Whiskey?«, fragte ich und nickte zu dem Glas hin. »Wasser«, sagte Thorsten und hielt mir das Glas entgegen, damit ich daran riechen konnte. »Um Kopfschmerztabletten zu schlucken.«
    Ich trat zwei Schritte in den schmalen Flur hinein, während er das Glas auf den Fußboden stellte und seine Jacke vom Haken nahm. Ich sah sein Haar an, das zerzaust war wie immer, und spürte den kindischen Wunsch, es zu berühren.
    »Ich … ich möchte dir immer noch sehr viele Dinge erzählen«, sagte ich, »weil ich sie irgendwem erzählen muss, ich meine, nicht dass du irgendjemand wärst, ich meine … aber bevor wir irgendwo hingehen, ich meine, bevor ich erzähle … könntest du mich noch einmal in den Arm nehmen wie in der Klinik, nur ganz kurz? Ich weiß, es ist eine dumme Bitte …«
    Thorsten sagte nichts. Er ließ die Jacke fallen, die er in der Hand gehabt hatte, und zog mich an sich und hielt mich sehr fest. Etwas länger als ganz kurz. Er roch nach Klinik und nach Kaffee, ähnlich wie Claas und doch völlig anders. Der Pullover, an dem meine Wange lag, war kein Wollpullover wie bei Claas, sondern ein Ding aus reinem Kunststoff, billig, praktisch, belanglos und doch irgendwie freundlich. Ich fädelte meine Arme etwas ungeschickt unter seinen durch, um die Umarmung zu erwidern, um sie noch ein wenig länger dauern zu lassen, ehe wir irgendwo hingingen, wo wir uns nicht mehr umarmen konnten, weil andere Menschen dort waren, die es falsch verstehen konnten, wenn sich zwei Leute umarmten.
    Wir gingen nirgendwo hin. Die einzigen Menschen hier waren wir, und wir verstanden beide alles richtig, wir verstanden unsere Umarmung in dem Moment, in dem wir losließen.
    Thorstens Lippen waren ungewohnt auf meinen, wie der Pullover waren sie erstaunlich weich, der Kuss etwas, in das man hineinsinken konnte wie in ein zu weiches Bett, aus dem man möglicherweise nie wieder aufstehen kann. Wir küssten uns sehr lange in dem schmalen Flur, und ich weiß nicht, ob wir versehentlich an den Lichtschalter kamen oder absichtlich oder ob die Glühbirne durchbrannte, das zu helle Flurlicht erlosch in jedem Fall, und das war gut, weil ich mir im Dunkeln wieder einbilden konnte, ich wäre jemand anderer oder gar nicht vorhanden, wie in der Kneipe.
    Ich wand mich aus meiner Jacke und aus meinem T-Shirt, hörte den weichen Stoff von Thorstens Pullover rascheln und spürte nackte Haut auf meiner Haut, warm auf kalt, wir umarmten uns noch einmal, wir pressten unsere Körper so eng aneinander, dass es schmerzte, und dann war keine Zeit mehr für Umarmungen. Keiner von uns sagte etwas. Thorsten zog mich an der Hand mit sich, aus dem Flur in ein sehr kleines Schlafzimmer, auf ein schmales, hartes Bett, die Art Bett, die man von Jugendherbergen kennt, voller harter Kanten, nicht dazu gemacht, länger darin zu bleiben als unbedingt notwendig. Das einzige Licht im Raum stammte von der Straßenbeleuchtung, ein künstliches, kaltes Licht ähnlich dem in der Klinik, nur schwächer und weniger grün. Es gab keine Vorhänge, nur ein Rollo, und Thorsten ließ es hinunter, um das Licht auszuschließen. Alles, was im Zimmer übrig blieb, waren die absolute Dunkelheit und unsere Körper, die auf dem schmalen Bett Schutz beieinander suchten. Es gab keinen Raum für Zärtlichkeiten, nicht auf dem Bett und nicht in unseren Leben und nicht in dieser Nacht. Irgendwo lag David in einem anderen Bett und schlief und träumte vielleicht – wovon? Ich sah sein entrücktes Gesicht vor mir, als ich mich in der bilderlosen Schwärze an Thorsten presste. Und dann das Gesicht des wachen David, in einem Berliner Hotel, ein Gesicht mit geröteten Augen, übernächtigt.
    Warum kann man die Behinderten nicht enthindern?
    Davids Verzweiflung wurde meine Verzweiflung wurde Thorstens Verzweiflung wurde die Verzweiflung der ganzen Welt. Die Verzweiflung des Gottes, der fortgegangen war und die Menschheit alleingelassen hatte in

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