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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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seiner Gene nie gegeben, diesen merkwürdigen, zu intelligenten und gleichzeitig zu naiven Jungen, Prinz Goldhaar aus dem alten Pfarrhaus, ich hätte ihn nie geliebt, diesen Jungen, weil er ja nie existiert hätte, und er wäre auch nie auf einer Autobahn überfahren worden. Und Thorstens eigene Kinder hätte es auch nie gegeben – diese Gedankenfolge war wirklich zu abstrus. Die Dinge ließen sich nicht rückgängig machen.
    »Er war so verzweifelt, am Ende«, sagte ich. »Obwohl er natürlich nicht wusste, dass es das Ende war. Er dachte, es wäre das Ende seiner Paradieswerkstatt, und dann stellte er fest, dass es so viel mehr Unglück in der Welt … Er hatte einfach vergessen, dass die Welt außerhalb unseres Dorfes existiert, ist das nicht merkwürdig? Und er hatte beschlossen, Gott zurückzuholen.«
    »Keine schlechte Idee«, sagte Thorsten. »Man könnte einen brauchen hier.«
    »Thorsten … ich habe mir vorgestellt, was ist, wenn David nicht aufwacht … ich meine, eine lange Zeit nicht … Er wacht doch auf? Ich meine – bald?«
    »Thorsten?«, rief eine der Schwestern im Flur, und Thorsten zuckte entschuldigend die Schultern. Er streifte mich leicht, als er an mir vorbei durch die Tür ging, und die Berührung fühlte sich zufällig an, aber sehr tröstlich. Ich wünschte, er hätte mich noch einmal in den Arm genommen.
    »Ich muss … bleibst du noch eine Weile? Ich habe um fünf Schluss, praktisch gesehen natürlich erst um sieben …«
    Sein braunes Auge sagte: Bitte bleib bis dahin. Sein blaues Auge sagte: Geh besser vorher.
    »Ich bleibe«, sagte ich.

    Und ich blieb. Ich hielt Davids Hand und dachte über Gott nach und über Lotta und den vielleicht-nicht-letzten Eintrag in der Mappe, und ich blieb. Ich erzählte David sein Leben und blieb, ich erzählte ihm, wie ich seinen Vater kennengelernt hatte und wie wir ins alte Pfarrhaus gezogen waren und wie wir sieben Jahre lang auf ihn gewartet hatten. Und wie er unter unseren erstaunten Augen zu einem kleinen Jungen herangewachsen war, der so ganz anders war als andere kleine Jungen, und wie er aufwachen würde, bald schon, und nach Hause käme, um ein ungewöhnlicher Jugendlicher und später ein ungewöhnlicher Erwachsener zu werden, ich erzählte ihm von seinen eigenen Kindern, die irgendwann im Pfarrhaus spielen würden, und von ihrer Großmutter Lovis, die sich alle Zeit der Welt für diese Enkelkinder nehmen würde und der sie immer alles erzählen könnten, auch wenn sie zum Beispiel seltsame Projekte zur Errettung der Welt durchführten.
    Um vier Uhr nachmittags war ich zu hungrig, um länger neben Davids Bett zu sitzen, also ging ich hinunter in die klinikeigene Cafeteria und aß dort ein belegtes Brötchen, das schmeckte, als wäre es in der Wäscherei der Klinik aus gestärkten Laken gefertigt und anschließend gründlich desinfiziert worden.
    Ich ging alle Informationen noch einmal durch, die ich über Davids Verschwinden besaß. Bei den Postkarten an Frau Hemke blieb ich stehen. Sie hatte gesagt, er hätte sie gezwungen, ihren Koffer zu packen … er hätte auf dem Bett gesessen und gelesen … und sie hätte ihm das Buch geschenkt, weil er sagte, er könnte es brauchen. Was für ein Buch war das gewesen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Frau Hemke viele Bücher besessen hatte. Ein Buch über Gartenbau vielleicht? Oder ein Kochbuch? Aber besaßen alte Leute, die ihren Garten und ihre Kochtöpfe in- und auswendig kannten, Bücher über das Gärtnern und Kochen?
    Es kam mir abstrus vor, aber ich rief die Auskunft an und verlangte die Nummer des Seniorenheims Friedensstift.
    »Frau Hemke«, sagte ich. »Hier ist Davids Mutter.«
    »Ach Gott«, sagte Frau Hemke. »Ist ihm etwas passiert?«
    »Er … hatte einen Unfall … Aber das wissen Sie doch.«
    »Natürlich weiß ich das«, sagte Frau Hemke ungeduldig. »Ich meine, ist etwas Neues passiert?«
    »Nein«, sagte ich und verschwieg die Intubation. »Und … ich hole Sie bald nach Hause, wirklich bald, es ist fast alles geklärt …« Das war eine Lüge. Ich hatte über allen anderen Dingen vergessen, mit ihrem Sohn zu sprechen. Ich würde es tun. Morgen. »Bitte … mir ist gerade etwas eingefallen … Was war das für ein Buch, das Sie David geschenkt haben? In dem er gelesen hat, als Sie Ihren Koffer gepackt haben?«
    »Oh, das«, sagte Frau Hemke. »Die Bibel. Eine kleine Ausgabe, Dünndruck. Sehr praktisch, hat er gesagt … um sie in der Tasche zu

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