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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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überlegte einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Lieber nicht«, sagte sie. »Du willst nicht, dass ich mitkomme. Bis wohin hast du gelesen?«
    »Bis zum Ende«, sagte ich und stieg ins Auto. Sie hatte recht. Ich wollte nicht, dass sie mitkam. Ich fühlte mich schlecht deswegen, aber ich wollte allein sein im Auto, ich wollte allein sein mit David und seiner Theodizeefrage, und Lotta würde mir ohnehin nicht helfen, Antworten zu finden.
    Ich fragte sie nicht noch ein zweites Mal, ob sie mitwollte. Ich startete den Motor und fuhr los.
    Im Rückspiegel sah ich, dass Lotta dem Auto nachblickte. Sie winkte nicht. Sie schüttelte den Kopf. Sehr entschieden. Als wäre ihr Kopfschütteln Teil eines Gesprächs, das wir nicht gehabt hatten. Neben ihr saß der Hund, ich hatte ihn ganz vergessen. Lotta und er passten zusammen, sie würden sich umeinander kümmern, während ich fort war.
    Ich komme wieder, dachte ich. Es ist wie damals, Lotta, weißt du, als David in den Wald gegangen ist, um alleine nachzudenken. Er ist wiedergekommen, und ich komme auch wieder. Warte auf mich.
    Aber Lottas Kopfschütteln verfolgte mich. Was bedeutete es? Bezog sich ihr »Nein« auf meine Antwort, ich hätte bis zu Ende gelesen?
    Aber es gab keinen Eintrag mehr.
    Am Ortsausgang stand René. Neben ihm stand Celia mit ihrem Kinderwagen. Vielleicht hatte sie ihm von dem Café in der Stadt erzählt oder erzählte gerade davon. Er grinste sehr breit, als er mir winkte, fröhlich breit. Ich merkte, dass ich lächelte, als ich auf die Schnellstraße abbog.

    Ich hasste das Beatmungsgerät gleich, als ich es sah, dieses riesige, klobige Stück Technik neben Davids Bett – und gleichzeitig wusste ich, dass ich dankbar sein musste für seine Existenz. Davids Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßiger als zuvor, die Maschine half ihm, pumpte sauerstoffreiche Luft in seine Lungen und sorgte dafür, dass die verbrauchte ausgeatmet wurde, ohne dass er sich anstrengen musste. Die Atemmaske bedeckte sein Kindergesicht beinahe ganz, nur die geschlossenen Augen und die paar rötlichen Haarsträhnen waren zwischen der Maske und dem Kopfverband zu sehen. Die grüne EKG-Linie lief unverändert über den Bildschirm.
    Ich hatte mich an den Einmalmundschutz und den Papierkittel gewöhnt, den ich tragen musste, beinahe bemerkte ich sie nicht mehr. Ich zog mir einen Stuhl heran und erzählte David von Celia, von ihrem Baby, das wir gebadet hatten, und von dem Café, in dem René arbeiten und darauf stolz sein würde.
    Und zum ersten Mal fragte ich mich, was wäre, wenn es immer so weiterginge. Wenn ich jeden Tag neben diesem Bett sitzen würde, nicht Wochen, sondern Monate, Jahre, im Sommer und im Winter. Ich schwor mir, selbst dann jeden Tag zu kommen, David von allem zu erzählen, was draußen vor sich ging, von den Jahreszeiten, dem Schnee, der auf unsere Straße fiel, den Spaziergängen, die ich mit dem Hund machte, und all den Leuten, denen er geholfen hatte und denen nun ich half.
    Samstag kam erst gegen Mittag.
    »Tut mir leid«, sagte er, »es ist die Hölle los auf der Station heute. Wir haben drei Neuaufnahmen, und ein Frühchen, das sehr lange hier lag, ist gegangen …«
    »Gegangen? Wohin gegangen?«, fragte ich. Samstag guckte weg.
    »Es ist gestorben«, sagte ich.
    »Dein Mann war hier«, sagte Samstag. »Heute Nacht. Mein Kollege hat es mir erzählt. Er war wohl dabei, als sie die Entscheidung getroffen haben, ihn zu intubieren.«
    »Er war dagegen«, sagte ich. »Das weißt du. Sie mussten ihn intubieren, weil ich nie zugestimmt hätte, dass sie es bleiben lassen. Wenn es … wenn es nach Claas gegangen wäre, wäre David jetzt …« Ich konnte nicht »tot« sagen, das Wort schien unheimlich schwierig auszusprechen, so als hätte es fünfundzwanzig Silben, und ich wusste, dass meine Zunge sich in einer der Silben verheddern würde.
    »Du urteilst sehr hart über Claas«, sagte Thorsten.
    »Warum nennst du ihn überhaupt Claas?«, fragte ich. »Kennt ihr euch irgendwie?«
    »Wir haben mal zusammengearbeitet. Im letzten Jahr vor dem Facharzt. Es ist … sehr lange her.«
    »Das war, als ich Claas kennengelernt habe«, sagte ich. »Ja. Es ist sehr lang her.«
    Ich fragte mich, was passiert wäre, wenn ich damals im Wald beim Malen nicht Claas begegnet wäre, sondern Thorsten. Wenn es Thorsten gewesen wäre, den ich geheiratet hätte. Dann wäre David vielleicht nicht David gewesen, es hätte diesen David mit dieser speziellen Kombination

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