Paradies für alle: Roman (German Edition)
ihrer Verzweiflung. Und in dieser Verzweiflung verschmolzen wir auf dem schmalen Bett zu einem Klumpen aus Fleisch und Blut und Schweiß, etwas Unästhetischem, Notwendigem, Dringlichem, Drängendem, niemals Zufriedenem, etwas wie die Gestalten auf den Bildern von Francis Bacon. Etwas, das sich aneinander, ineinander festkrallte, um nicht den Halt in der Realität zu verlieren.
Wir taten uns gegenseitig weh und wollten es so.
Das Bettlaken war der Asphalt einer Autobahn. Ich roch verbranntes Gummi und glühendes Metall, ausgelaufenes Benzin, Teer, Blut. Der Moment dauerte ewig und war sehr kurz, und es war eine merkwürdige Art von Sex ohne wirklichen Lustgewinn, ohne Höhepunkt auf meiner Seite, aber darum ging es nicht.
Und dann lagen wir in der Dunkelheit, dicht nebeneinander, und versuchten, zu Atem zu kommen.
»Ich … bin etwas außer Übung«, sagte Thorsten leise, in einem nicht geglückten Versuch, die Tiefe der Dunkelheit leichter zu machen, ironischer. »Das letzte Mal, dass ich das getan habe, war … vor fünf Jahren.«
Ich tastete nach seiner Hand und drückte sie ganz fest. »Mit deiner Frau?«, wisperte ich.
»Ja«, sagte er. »Damals war es etwas anderes.« Und dann, nach einer Weile: »Er ist losgegangen, um Gott zurückzuholen?«
Da lehnte ich mein Gesicht an seinen Hals und erzählte ihm all die Dinge, die ich loswerden musste, und er hörte mir lange zu. Es war seltsam, denn die Mauer, meine unsichtbare Mauer, war die ganze Zeit über da. Und dennoch war alles in Ordnung und musste so sein, wie es war. Bis ich begriff. Er hatte auch eine Mauer, eine eigene. Wir waren uns nahe, ohne dass es jemals die Möglichkeit geben konnte, sich wirklich nahe zu sein.
»Erzähl du«, sagte ich schließlich. »Erzähl du von deinen Kindern.«
Thorsten stand auf und machte das Licht an, und da sah ich, dass der Raum voller Fotos war. Sie bedeckten alle Wände, sie bedeckten sogar die Decke, Fotos von einem kleinen Jungen und einem kleinen Mädchen, die über Wiesen rannten, die Geburtstage feierten, die schlafend in Betten lagen, die am Strand spielten, mit ihrer Mutter oder ihrem Vater oder allein, Fotos aus neun Jahren, von Tausenden von Tagen, von Trillionen von Minuten, undenkbar vielen Atemzügen und Herzschlägen. Es gab keinen Raum zwischen den Fotos, sie stießen aneinander und waren übereinandergeklebt, sie schienen ineinander hinein- und auseinander herauszuwachsen, da war kein einziger Quadratzentimeter freie Wand. Ich lag lange da und betrachtete sie, während Thorsten auf der Bettkante saß und sie ebenfalls betrachtete.
»Warum tust du das?«, flüsterte ich schließlich. »Du siehst sie jeden Abend und jeden Morgen an, und natürlich träumst du dann … Warum quälst du dich?«
»Es gibt niemand anderen«, antwortete er mit einem Lächeln, »den ich quälen könnte.«
Und ich dachte an David und Frau Hemke und daran, wie er gesagt hatte, wenn es weh tut, weiß man wenigstens, dass man noch lebt.
»Damals«, sagte Thorsten, »als das passiert ist. Damals wollte ich ihnen nach. Sterben. Ich kenne die Warnowtalbrücke gut, vor der Davids Unfall passiert ist. Damals gab es dort noch kein Netz. Ich habe lange dagestanden und nach unten gesehen, den Autos zugesehen, die vorbeifuhren. Ich konnte es nicht. Ich hatte nicht den Mut.«
»Gott sei Dank«, sagte ich und wusste nicht einmal, ob ich es meinte.
»Mach du alles anders, ja?«, sagte Thorsten. »Werd wieder glücklich. David kommt zurück.«
Wir zogen uns an und gingen in die Küche, die nicht größer war als der Platz, der im Lager der Klinik zwischen den Inkubatoren und Windeln verblieb, und Thorsten machte Kaffee. Wir redeten nicht mehr. Ehe ich ging, umarmten wir uns noch einmal. Es fühlte sich an wie ein letztes Mal.
Und dann stand ich auf der Straße.
Ich ging zurück zur Klinik, um noch eine Weile bei David zu sitzen. Schwester Erika war da, sie nickte mir nur zu, sie hatte sich an mich gewöhnt wie an einen Teil der Einrichtung.
»Da ist ein letzter Eintrag, nicht wahr?«, flüsterte ich David zu. »Ein dreizehnter Bericht. Wo ist er David? Wo? Was ist am Ende passiert? Wenn ich es herausfinde, wachst du auf, ist es nicht so? Du wartest darauf, dass ich dich endlich ganz verstehe.«
Auf dem Weg nach Hause schlief ich auf der Autobahn zweimal beinahe ein. Ich war zu erschöpft, um über Thorsten nachzudenken oder darüber, was zwischen uns geschehen war und was es bedeutete.
Der Morgen dämmerte, als ich in die
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