Paradies für alle: Roman (German Edition)
und dem Abrollen über die Schulter. Dann werde ich im Krankenhaus liegen und die Augen zubehalten, so wie wir es auch geübt haben, mit der Feder. Ich mache die Augen nicht auf, auf keinen Fall.«
Lotta nickte, und Rosekast sah mich sehr aufmerksam an und sehr still.
»Sie werden denken, dass ich tot bin«, fuhr ich fort. »Oder jedenfalls fast. In einem Koma. Und dann wird jemand den Zettel in meiner Hosentasche finden und lesen, und das werden sie in den Nachrichten bringen, weil es doch etwas Ungewöhnliches ist, dass ein Junge von 9 Jahren und 7 Monaten so etwas tut. Nachrichten kriegt man ja überall auf der Welt, in allen Sprachen, jedenfalls die interessanten. Und dann …«
Ich fuhr Lotta mit dem Zeigefinger über die Wange. Ihre Wange war nass.
»Dann werden die Leute weinen«, sagte ich. »So wie du eben, als du dachtest, ich würde wirklich sterben. Oh, sie werden weinen! Sie werden weinen wie die Schlosshunde, wenn sie von meinem Opfer hören! Und sie werden sich schämen. Dass sie nicht mitgeholfen haben, das Paradies zu erschaffen. Das geht ja nicht, werden sie sagen, Gott zurückholen, indem man stirbt, da hat dieser Junge sich geirrt. Ist es nicht tragisch, dass er sich so geirrt hat? Und wenn sie fertig sind mit dem Weinen – das ist nämlich der Punkt an der Geschichte – werden sie damit anfangen. Damit, das Paradies zu erschaffen. Weil sie verstehen, dass es nur alle zusammen können. Sie werden das Gute in sich suchen und ausgraben. Wenn ALLE Leute mitmachen … oder na ja, die in der Wüste, ohne Internet und Nachrichten, die vielleicht nicht, aber die anderen, das sind viele, das sind genug, wenn die ALLE mitmachen, dann rollt die Murmel doch noch in die richtige Richtung. Und da kommst du ins Spiel, Lotta. Du musst nämlich zu mir kommen, wenn es so weit ist, und es mir sagen. Wenn die Leute damit angefangen haben, sich zu ändern. Wenn das Paradies begonnen hat. Denn dann schlage ich die Augen auf.«
Ich musste tief Luft holen, denn das war eine sehr lange Rede gewesen. Rosekast stellte keine einzige Frage. Vielleicht fiel ihm diesmal keine mehr ein. Vielleicht waren wir an einem Punkt angekommen, an dem es keine Fragen mehr gab.
»Oh«, sagte Lotta. Es war ein ganz kleines O, ihr Mund war auf perfekte Weise rund dabei. In diesem O lag sehr viel Nachdenklichkeit, mehr, als man mit tausend Worten ausdrücken kann.
In dem O las ich, dass sie nicht ganz überzeugt war. Und dass sie nicht alles begriffen hatte. Und ich las, dass sie mir trotzdem vertraute. Dass sie tun würde, worum ich sie bat.
»Woher«, fragte sie, »weiß ich denn, wann das Paradies anfängt? So dass ich dich wecken kann?«
»Das weißt du schon«, sagte ich. Und stand auf. »Gehen wir.«
»David«, sagte Rosekast. Er war heiser.
»Ja«, sagte ich. Und dann umarmte ich ihn. Dies war das letzte Mal, dass ich Rosekast in der alten Welt sehen würde, in der ohne Paradies. Er hatte die Kaninchenfellmütze auf und ich musste niesen, weil ich vielleicht auch allergisch gegen Kaninchen bin, so wie Claas.
»Viel Glück«, flüsterte Rosekast. »Du bist sehr mutig. Der mutigste Junge, den ich kenne.«
»Überhaupt nicht«, flüsterte ich zurück. »Leider. Trotzdem.«
Es muss Abend sein. Ich werde mich von jemandem mitnehmen lassen und dann irgendwo auf der Autobahn aussteigen. Am besten ist es, wenn ein Berg da ist, oder ein Hügel, mit ein paar Bäumen, Büsche gehen vielleicht auch, damit die Leute es gleich verstehen. Jesus saß ja auch auf dem Berg Getsemane, und Jesus kennen die meisten.
Jesus hat sich geopfert, um Gott zu versöhnen. Genau wie Aslan, der Löwe, der freiwillig zu seinen Feinden gegangen ist. Den kennen auch viele, das ist praktisch für mich. Da verstehen die Menschen das Opfer leichter. Man darf ihnen nur nicht sagen, dass es ein Trick ist.
Sonst ändern sie sich nie.
Aber ändern müssen sie sich, damit es ein Paradies geben kann, hier auf der Erde. Ich kriege direkt eine Gänsehaut, wenn ich das schreibe, so schön klingt es … ein bisschen wie in einem Film. Ja, ein Paradies muss es geben, für alle Leute, für René und Celia und Frau Hemke und Jarsen und Herrn Wenter und die Kühe und überhaupt alle.
Dann kann ich wieder mit Finn und Peter Fußball spielen und alles Mögliche tun, was ich nach Ende der Paradieswerkstatt tun wollte. Lotta wird im Paradies ein Fahrrad haben, ich bin sicher, es wird nicht vom Himmel fallen oder so, aber jemand, der von dem Zettel gehört hat, wird dafür
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