Paradies für alle: Roman (German Edition)
sorgen, dass sie eines bekommt.
Es kann natürlich sein, dass das Auto zu schnell ist. Dass es das Paradies irgendwann gibt. Aber ohne mich.
Das ist das Risiko.
Daran will ich nicht denken.
Für das Protokoll, welches auch immer:
Dies ist der erste Mai. Es ist zehn Uhr abends. Ich werde es morgen tun, morgen nach der Schule.
Falls Sie das nicht wissen: Ich habe jetzt Angst.
Wird es weh tun, verletzt zu werden?
Vielleicht tut es sehr weh. Vielleicht tut es so weh wie der Wespenstich im letzten Sommer, oder wie als ich mit dem Fahrrad auf den Kiesweg gestürzt bin. Oder noch mehr, so sehr, dass ich es mir nicht vorstellen kann.
Ich hoffe, dass es gar nicht weh tut. Irgendwo habe ich gelesen, dass bei Tieren, die kämpfen, so viel Adrenalin ausgeschüttelt wird, dass sie ihre Schmerzen nicht bemerken. Vielleicht ist das bei einem Unfall auch so.
Ich habe genau vorausberechnet, wie schnell ich zur Seite springen muss, wenn das Auto 200 Kilometer pro Stunde fährt, nämlich exakt zehnmal so schnell wie bei René. Das kann ich.
Ich würde gerne beten, Lieber Gott, mach, dass es gutgeht. Aber kann man zur Summe des Guten in den Menschen beten?
Ich wünschte, ich könnte stattdessen an den Mann mit dem Bart glauben und daran, dass er nicht nur ausgedacht ist.
Ich wünschte, ich könnte einem Mann mit Bart alles erzählen. Ich bin ganz allein mit dem Wissen, was morgen Abend geschieht.
Falls Sie das nicht wissen: Es ist schrecklich, ganz allein zu sein.
Ich habe noch jemanden auf die Liste gesetzt, nur, falls sie später gebraucht wird, von wem auch immer.
Der Letzte auf meiner Liste ist Claas.
Der Grund, aus dem er nie da ist, ist natürlich Lovis. Er hat sie sehr gern, die Erwachsenen würden sagen, er liebt sie, aber das klingt immer so blöd. Was auch immer, sie lässt ihn nicht. Sie ist immer irgendwie weg, mit dem Kopf, oder ganz, sie versteckt sich in ihren Bildern und lässt ihn allein. Er müsste da nicht wirklich so viel arbeiten, er flieht. Früher muss es einmal anders gewesen sein, ich weiß nicht, wann sie angefangen hat, sich vor ihm zu verstecken. Ich weiß nur, dass er sehr unglücklich ist.
Ich habe die Liste vor dem Abendessen zu Rosekast gebracht und mich verabschiedet. Vorübergehend. Auch von Lotta. Sie hat gesagt, wenn es schiefgeht, wenn ich die Augen nicht wieder aufmachen kann, will sie kein Paradies, und deshalb habe ich gesagt, es geht nicht schief.
Es wird dämmerig sein.
Ich werde am Straßenrand stehen.
In der Dämmerung werden mich die Autofahrer nicht sehen, oder fast nicht.
Die Dämmerung wird, hoffentlich, auch meine Haare verschlucken, von denen Lovis findet, sie wären golden. Prinz Goldhaar aus dem alten Pfarrhaus, hat die Marie gesagt. Die Marie. Der kann ich nicht mehr helfen, für die ist es zu spät.
Ich werde sehr schnell und sehr plötzlich auf die Autobahn hinausrennen. Oder, besser, wenn lange kein Auto kommt, setze ich mich einfach auf die Fahrbahn und stehe dann auf. Ein bisschen tut mir der Fahrer des Wagens leid, aber irgendwann, später, wird er alles begreifen.
Ich werde dann zur Seite springen, im exakt richtigen Moment. Und dann kommt die Zeit, in der ich meine Augen geschlossen behalten muss, egal, wer mich was fragt. Bis Lotta kommt und mir sagt, dass das Paradies angefangen hat. Überall auf der Welt.
Das wird wunderbar sein.
Falls Sie das nicht wissen: Ich habe Mama und Papa sehr lieb. Aber das wissen Sie sicher.
Ich ließ die letzte Seite sinken und starrte die Straße entlang.
Aber die Straße als Gegenstand war mir plötzlich fremd geworden, ich sah sie zum ersten Mal und wusste nicht, wozu sie gut war. Die Kastanien, zwischen denen ich saß, waren Wesen aus einer mir fremden Galaxie. Meine Füße, die unter mir auf einer niedrigeren Treppenstufe standen, sahen seltsam aus und nicht so, als könnte man sich damit fortbewegen.
Ich saß lange so und versuchte, mich in der Welt zurechtzufinden.
Dann stand ich auf, ließ die Blätter und den braunen Umschlag fallen und schrie. Ohne Worte, einfach nur so, sehr laut.
Der Hund machte einen Satz vor Schreck und bellte, und in dem Moment erinnerte ich mich daran, was ein Hund war und was eine Straße und was ein Kastanienbaum.
Vermutlich, dachte ich, ist es so, wenn man verrückt wird. Man vergisst einfach, was alles ist. Der Hund mit seinem erschrockenen Gebell hatte mich im letzten Moment davor bewahrt. Ich wusste nicht, ob ich ihm dankbar sein sollte. Vielleicht wäre es besser gewesen, verrückt zu
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