Paradies für alle: Roman (German Edition)
werden.
Die erste Frage, dachte ich, war gewesen, was David auf der Autobahn getan hatte.
Drei Kilometer nördlich der Ausfahrt Rostock Südstadt, nach der Warnowtalbrücke, abends gegen neun Uhr.
Jetzt kannte ich die Antwort.
Der Fahrer des Unfallwagens hatte gesagt, er sei einfach in der Dämmerung aufgetaucht, plötzlich, ohne Vorwarnung, aus dem Nichts.
Er habe, sagte er, das Steuer gerade noch herumreißen können, nicht weit genug herum, und er habe eine Vollbremsung hingelegt –
Er hatte die Wahrheit gesagt.
David hatte mitten auf der Straße auf ihn gewartet, in der Tasche einen Zettel, den wir nie gefunden hatten.
Er hatte mitten auf der Straße auf ihn gewartet, um im letzten Moment auszuweichen, er hatte geglaubt, es wäre möglich, mit zwanzigfacher Reaktionsgeschwindigkeit zur Seite zu springen, abzurollen, über die Schulter.
Er hatte mitten auf der Straße auf ihn gewartet. Auf seinen Todesengel, einen silbernen BMW.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, flüsterte ich zwei Stunden später, meine Hand in seiner. Er lag so reglos, so antwortlos in seinem Klinikbett wie immer.
»Was hast du dir bloß gedacht?« Ein Satz, den man eben so sagt. Das Schlimme war, dass ich genau wusste, was er gedacht hatte. Er hatte es in dreizehn Projektberichten aufgeschrieben.
Sein Unfall war die logische Folge von allem, was während der Paradieswerkstatt geschehen war.
Natürlich war die Logik als solche verbogen, das Gedankenkonstrukt bröckelig. Aber er war erst neun Jahre alt. Er hatte sich auch die Fremdwörter nie ganz richtig gemerkt, er war nicht Einstein, er war David. Mein David.
Ich beugte mich über ihn, und dann, ganz plötzlich, begriff ich, dass dies alles nicht echt war. Nicht wahr. Nicht real. Die rotgoldenen Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn wie immer, ich strich eine davon behutsam zur Seite, wie ich es so viele Male zuvor getan hatte, doch auf einmal kam mir die Bewegung seltsam gestellt vor, als wäre ich eine Schauspielerin in einem Film, die einem Jungen in einem Film eine Film-Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. Es war, als könnte ich mich von außen sehen, nicht nur diesen einen Augenblick, sondern meine ganze Suche nach der Wahrheit, meine Suche nach dem richtigen Code für die Einträge seines Werkstattberichtes, meine Suche nach dem Grund für Davids Unfall. Es war alles viel zu konstruiert, um wahr zu sein. Konstruiert von David.
Nicht nur ich war eine Schauspielerin in seinem Film, auch die Ärzte waren Schauspieler, die Krankenschwestern, Claas war ein Schauspieler, sogar Thorsten – sie hatten nur nicht gewusst, dass sie als Schauspieler benutzt wurden. Sie alle – wir alle – waren auf David hereingefallen, ihn, der die Hauptrolle in diesem Stück spielte und gleichzeitig Regie führte.
Auf einmal merkte ich, dass ich leise lachte.
»Du kannst jetzt damit aufhören«, flüsterte ich. David rührte sich nicht. Ich beugte mich noch weiter über das hohe Klinikbett und legte meine Wange an seine, spürte die Wärme unter der oberflächlich kühlen Haut, oberflächlich blassen Haut, eine verborgene Wärme in seinem Inneren: ein geheimes Leben.
»David«, flüsterte ich, »David? Du kannst die Augen aufmachen. Das Paradies … das Paradies hat begonnen.«
Es war eine Lüge. Natürlich war es eine Lüge.
Vielleicht, dachte ich, müssen wir unsere Kinder anlügen, um sie zu retten. Aber war es nicht umgekehrt gewesen? Hatte er nicht eine Lüge inszeniert, um uns zu retten? Uns in großem Umfang? Die Menschheit? Ein unmögliches Unterfangen selbstverständlich.
Ich hob den Kopf und log noch einmal, lauter: »Das Paradies, David! Es ist da!«
Da war ein Zucken in seinen Augenlidern, kaum merklich und doch vorhanden. Ich nahm seine Hand. »Mach die Augen auf«, bat ich. »Du hast sie lange genug geschlossen behalten … du hast uns lange genug etwas vorgespielt … Jetzt ist die Zeit nach der Paradieswerkstatt. Zeit, aufzustehen und mit Finn und Peter Fußball zu spielen. Und mit Lotta auf dem Waldboden zu liegen und den Vögeln und Blättern zu lauschen, das wolltest du doch … Der Zettel … deine Botschaft ist um die Welt gegangen, wie du es wolltest …«
Lüg weiter, Lovis, dachte ich, hör jetzt nicht auf, du hast es fast geschafft, fast, fast bis du zu ihm durchgedrungen … Ich merkte, dass ich schlecht Luft bekam. Riss mit der freien Hand am Kragen meines Pullovers, meine Bewegungen fahrig. Rief. Nein, schrie.
»Das! Paradies! Hat!
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