Paradies für alle: Roman (German Edition)
darin, dass ich mich in Rosekasts Garten flach auf den Boden legte, auf dem Rücken, und die Augen schloss.
Lotte kniete neben mir, weil ich sie darum gebeten hatte. Rosekast saß auf seiner Bank und sah uns zu und schwieg.
»Hörst du die Vögel in den Bäumen?«, flüsterte ich.
»Ja«, flüsterte Lotta.
»Und hörst du, wie die Blätter rascheln?«, flüsterte ich.
»Ja«, flüsterte Lotta.
»Hast du die Feder? Die ich dir gegeben habe?«
»Ja.«
»Dann musst du mich jetzt mit dieser Feder kitzeln«, sagte ich. »Am besten. Ich werde die Augen nicht aufmachen. Das ist es, was wir üben. Ich darf auch das Gesicht nicht verziehen. Wenn ich das Gesicht verziehe, musst du mir das sagen. Okay?«
»Okay«, sagte Lotta. Und sie kitzelte mich mit der Feder, die ich im Wald gefunden hatte, erst an den Händen und an den Armen und dann am Hals und im Gesicht. Es war sehr schwer, nicht zu lachen und nicht zu blinzeln, aber nach einer Weile gewöhnte ich mich daran, einfach gar nichts zu tun. Ich lag nur da und lauschte dem Rauschen der Bäume und den Vögeln, und ich dachte, dass es schön sein müsste, einfach nur so dazuliegen, ohne dass es zu irgendeiner Übung oder irgendeiner Paradieswerkstatt gehörte.
»Lotta?«, flüsterte ich schließlich.
»Ja?«, flüsterte Lotta.
»Ich glaube, wir haben genug geübt. Ich kann es jetzt. Ich kann die Augen zubehalten. Gut genug. Weißt du was?«
»Nee?«, fragte Lotta. »Was denn?«
»Wenn alles vorbei ist«, wisperte ich ganz leise, »dann möchte ich hier so liegen, hier im Wald, ganz still. Nur eine Weile. Und überhaupt nichts denken. Nicht an Gott und nicht ans Paradies oder an schreckliche Sachen wie tote Katzen in Berlin und Steine, die jemand wirft, sondern an überhaupt gar nichts.« Ich spürte Lottas Hand in meiner, sie hatte sich neben mich auf die Erde gelegt, und als ich blinzelte, sah ich, dass sie ebenfalls die Augen geschlossen hatte.
»Ist gar nicht schlecht«, wisperte sie. »Nur so daliegen.«
Aber kein Mensch kann für immer nur-so-daliegen, und schließlich standen wir auf, und unsere Kleider waren klamm und feucht vom Gras und von der Erde.
»Rosekast?«, sagte ich. »Lotta? Ich werde euch jetzt etwas vorlesen. Dies ist das Ende der Paradieswerkstatt, jedenfalls meiner.«
Und ich holte den Zettel heraus, den ich in der Hosentasche hatte. Lotta setzte sich neben Rosekast, und sie sahen mich beide an, irgendwie ernst und feierlich.
»Diesen Zettel werde ich morgen in der Tasche haben«, erklärte ich und räusperte mich. Dann begann ich:
»Frage: Warum gibt es das Böse in der Welt, wenn es einen guten Gott gibt?
Antwort: Weil der gute Gott weggegangen ist.
Frage: Wie kann man ein Paradies auf Erden schaffen?
Antwort: Man muss Gott zurückholen.
Ich, David Berek, 9 Jahre und 7 Monate alt, werde Gott zurückholen. Ich werde mit ihm sprechen. Es nützt nämlich nichts, immer zu widerlegen, dass es Gott gibt. Wir brauchen einen Gott. Wir brauchen ihn dringend.
Es wäre natürlich auch möglich, einfach mit den Menschen zu sprechen.
Gott ist auch in allen Menschen, irgendwie verschüttet. Man müsste, um ihn zu ent-schütten, mit allen Menschen auf der ganzen Welt reden. Aber mit allen Menschen auf der ganzen Welt kann ich nicht reden.
Deshalb werde ich am 2. Mai sterben. Das ist mein Opfer, damit er zurückkommt.
Unterzeichnet: David B.«
Eine Weile war es sehr still in Rosekasts Garten.
Lottas Augen waren groß und leer wie Spiegel.
»David«, flüsterte sie schließlich, »glaubst du das? Dass du … mit Gott reden kannst, wenn du stirbst?«
»Glaubst du das?«, wiederholte Rosekast.
Da lächelte ich sie beide an. Und ich schüttelte ganz langsam den Kopf.
»Nein«, sagte ich. »Nein, das glaube ich nicht. Und deshalb sterbe ich auch nicht.«
Ich glättete den Zettel, und dann steckte ich ihn wieder ein und setzte mich auf die Bank, zwischen Lotta und Rosekast.
»Ich tue nur so«, flüsterte ich. »Versteht ihr? Ich tue so, als ob ich sterbe.«
»Wie denn?«, fragte Lotta. »Wo denn?«
»Das ist jetzt egal«, sagte ich. »Jedenfalls wird ein Auto invulviert sein, und ich werde beiseitespringen, im allerletzten Moment. Ich werde verletzt werden, das muss man in Kauf nehmen. Vielleicht breche ich mir ein Bein oder einen Arm, das ist nicht so schlimm. Finn hat sich mal ein Bein gebrochen, er konnte eine ganze Weile nicht Fußball spielen, und wir haben alle auf seinem Gips unterschrieben … Ich mache es so, wie wir es geübt haben, mit dem Boxsack und René
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