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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Angefangen!«
    Meine Worte hallten durch die Stille des Raumes, die noch stiller wurde durch sie. Das Summen und Piepen der Geräte schlich sich wieder in meine Ohren.
    Ich starrte Davids Augenlider an, doch sie rührten sich nicht mehr. Das geriffelte Plastik des Tubus, der in seinem Mund verschwand, fixiert mit Klinikklebeband, starrte mich an wie ein abstraktes Kunstwerk.
    »Frau Berek?«, sagte jemand hinter mir. Es war einer der Ärzte, die ich bisher nur hatte vorübergehen sehen, ohne jemals mit ihnen zu sprechen. Dr. P. Ralinger, sagte das Schild an seinem Kittel. Es war nur irgendein Name, nur irgendein Arzt.
    »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten«, sagte Dr. P. Ralinger.
    »Er … er muss diesen Tubus loswerden!«, rief ich, aber ich dachte nur, dass ich gerufen hatte, was ich hörte, war nicht viel mehr als ein Flüstern. »Er … er hat nie im Koma gelegen! Er hat sich die ganze Zeit über nur geweigert, die Augen zu öffnen, er ist das störrischste Kind, das ich kenne … Bitte! Lassen Sie ihn selbst atmen! Er kann selbst atmen!«
    »Frau Berek«, wiederholte Ralinger.
    »Sie … Sie glauben mir nicht …«
    Er legte eine Hand auf meinen Arm, und ich wollte sie abschütteln, aber auf einmal hatte ich nicht mehr die Kraft dazu. Mein Bild von der Inszenierung, in der nichts echt ist, begann, sich an den Ecken aufzulösen, dann zerfiel es in tausend winzige Bestandteile, in tausend graue Kästchen. Ich wusste, was Ralinger sagen würde, ehe er es sagte.
    »Niemand, der bei Bewusstsein ist, lässt sich intubieren«, sagte Ralinger.
    Er sah natürlich, dass ich heulte. Ich heulte schon seit einer ziemlichen Weile, es hätten eigentlich keine Tränen mehr da sein sollen, aber mein Körper produzierte die nötige Flüssigkeit ständig nach. Ich musste fürchterlich aussehen. Was war gleichgültiger als das?
    »Sind Sie … sicher?«, flüsterte ich.
    »Ja«, sagte Dr. P. Ralinger.
    »Ich will nicht mit Ihnen sprechen«, wisperte ich, kaum hörbar. »Nicht jetzt.«
    »Ich möchte Sie aber darum bitten«, sagte er. »Wir haben immer wenig Zeit hier auf der Station, es ist immer schwierig, und jetzt gerade habe ich Zeit, und es wäre schön, wenn Sie einen Augenblick mit ins Arztzimmer kämen.«
    Thorsten, dachte ich, hatte auch nie Zeit gehabt. Thorsten hatte sich Zeit genommen. Nach und vor seinen Diensten, immer. Wo war Thorsten?
    Dr. P. Ralinger setzte mich an den gleichen Tisch, an dem ich auch mit Thorsten schon gesessen hatte. Er kochte keinen Kaffee. Er setzte sich mir gegenüber, und ich hatte Angst vor dem, was er sagen wollte, ich fühlte mich wie eine Studentin, die von ihrem Prüfer nach der Prüfung hereingerufen wird, um das Ergebnis zu besprechen.
    »Gut«, sagte ich. »Er hat die Augen nicht absichtlich geschlossen.« Es war lächerlich, als würde ich mit ihm verhandeln. »Vielleicht nicht. Aber.«
    Ralinger ging nicht darauf ein. »Schwester Erika hat gesagt, sie macht sich Sorgen um Sie«, sagte er stattdessen, und das erstaunte mich.
    »Schwester Erika?«
    Er nickte und musterte mich. »Ich kann ihre Sorgen verstehen«, sagte er. Er klang nicht unfreundlich, und dennoch hatte ich schon begonnen, ihn zu hassen – dafür, dass er mich dabei ertappt hatte, wie ich meinen bewusstlosen Sohn anschrie. Dafür, dass er mich zu einem Gespräch zwang, vor dem ich Angst hatte, dafür, dass er mir gegenübersaß, dafür, dass er nicht Thorsten war.
    »Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie bisher mit keinem der Kollegen gesprochen außer mit Doktor Samstag«, sagte er.
    »Ja. Es … ergab sich so. Wo ist er?«
    »Er hat frei heute, und ich habe ihm gesagt, dass er auch wirklich nicht auftauchen soll. Er arbeitet zu viel. Frau Berek … ich nehme an, Sie kennen Samstags Geschichte?«
    »Seine Familie ist verunglückt, meinen Sie das?«
    »Ja. Er und seine Frau haben den Unfall überlebt. Die Kinder nicht.«
    »Er … aber … ich dachte, seine Frau war auf dem Weg hierher, um ihm die Kinder zu bringen … von Bremen …«
    Ralinger schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Er hat den Wagen gefahren. Sie haben sich schon damals nicht mehr so gut verstanden, und vielleicht war es im Gespräch, dass sie nach Bremen ging, zu ihren Eltern zurück. Aber sie waren noch nicht getrennt. Seine Frau und er … ich weiß nicht, ob sie gestritten haben im Auto. Ob es deshalb passiert ist. Man hört dieses und jenes. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Irgendwo. Sie haben keinen Kontakt

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