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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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geglaubt.«
»Das ist eine etwas … ungewöhnliche Theorie«, sagte Rosekast.
»Kann sein«, sagte ich. »Und jetzt müssen wir üben.«

Und dann übten wir. Lotta und ich. Und René. Rosekast konnten wir fürs Üben nicht brauchen, er wollte nämlich nicht üben.
Wir übten für das, was ich vorhatte und was ich Lotta zuerst nicht erklärt habe, weil das Üben wichtiger schien als das Erklären. Lotta ist ja sowieso mehr fürs Praktische.

Liste der Dinge, die wir übten:
Einem bewegten Gegenstand ausweichen.
Einem sich bewegenden Gegenstand ausweichen
(Unterpunkt: Einem sich schneller bewegenden Gegenstand ausweichen).
Die Augen zubehalten.

Ich sagte Claas, dass ich einen Sack brauchte, am besten so einen altmodischen aus Stoff, in jedem Fall groß. Der einzige Sack, den Claas fand, war der rote Jutesack, in dem er und Lovis jede Weihnachten meine Geschenke unter den Baum legen, seit ich klein bin. Der Sack roch nach Weihnachten; nach Zimt und nach Kerzenwachs und bisschen angekokelt, und es rieselten Tannennadeln heraus, als ich ihn ausschüttelte. Da musste ich ein bisschen schlucken, weil ich an das letzte Weihnachten dachte, bei dem ich nur verkehrte Geschenke bekommen hatte, wofür ja niemand etwas konnte. Lotta sah mir zu, wie ich den Sack mit Büchern aus Rosekasts Regalen füllte – oder mit Büchern, die eigentlich in den Regalen hätten sein sollen, aber mal wieder über den Fußboden verstreut lagen.
Lotta sagte nichts, sie kaute nur wieder Kaugummi. Ich glaube, wenn man Bücher kauen könnte, statt sie zu lesen, wäre das für Lotta eine gute Methode, sich mit Literatur zu beschäftigen.
»Jetzt müssen wir den Sack irgendwo anbinden«, sagte ich, »wo er schwingen kann.«
Wir schleppten ihn zu zweit bis zum Waldrand, bis zur Schlucht, in der die Tarzanschaukel einmal hing. Aber keiner von uns wollte den Sack an das abgeschnittene Seilende binden, obwohl wir ein Verlängerungsseil hatten.
Schließlich sagte Lotta, wenn der Sack an einen Baum sollte, könnten wir doch eine von den Weiden nehmen. Und ich dachte, dass dann Lovis oder Claas sehen würden, was wir taten, aber wir taten es und sie sahen nichts, weil Claas nicht da war und Lovis auch nicht da war. Sie war in irgendeinem Bild von grauen Kästchen verschwunden.
Wir befestigten den Sack also mit dem Seil an einer Weide, und dann sagte ich Lotta, dass sie in die Weide klettern und den Sack zu sich ziehen musste. Ich blieb unten stehen. Es war sehr gut als erste Übung, man muss Dinge ja schrittweise einüben.
»Und jetzt schubs den Sack runter«, sagte ich zu Lotta. »Von der Weide. So dass er an dem Seil schwingt.«
»Aber da stehst du doch«, sagte Lotta und klebte ihren Kaugummi an einen Ast.
»Eben«, sagte ich.
Lotta guckte nicht überzeugt, und ich erklärte ihr, dass es das war, was wir übten: das Ausweichen.
Also gab sie dem Sack einen Schubs, und das Gewicht von ungefähr dreißig Büchern über Philosophie und Religion sauste auf mich zu. Ich sprang zur Seite. Es war einfach. Zu einfach. Wir zerrten den Sack wieder auf die Weide, und Lotta ließ ihn noch einmal los, und noch mal und noch mal, und ich wich jedes Mal später aus. Am Ende wich ich erst aus, als der Sack mich schon beinahe berührte, und ganz am Ende traf er mich. Ich landete ziemlich unsanft im nassen Gras. Einen Moment lag ich nur so da, lauschte auf den pochenden Schmerz in meiner Schläfe, wo eine Buchecke mit mir kollisiert war, und behielt die Augen geschlossen.
»David?«, fragte Lotta über mir. »Ist alles okay?«
»Ja«, sagte ich und öffnete die Augen, denn das Augen-nicht-Öffnen gehörte erst zum letzten Teil der Übung.
An diesem Abend wunderte sich Lovis über den blauen Fleck an meiner Schläfe. Ich sagte ihr, ich hätte beim Sport einen Ball abbekommen.

Zum zweiten Teil meines Plans gehörte René.
Wir besuchten ihn einen Tag später. Er stand am Zaun, einfach nur so, und sah in den Nachmittag hinein. »Deine Mutter, die hat doch ein Auto, oder?«, fragte ich. René nickte.
»Kannst du das fahren?«, fragte ich.
René schüttelte den Kopf.
»Bestimmt nicht?«, fragte ich. »Es wäre nämlich wichtig.«
»Vielleicht auf’n Feldweg«, sagte Lotta. »Wenn er keine Fahrerlaubnis hat. Feldwege sind ja genug da.« Sie breitete die Arme aus, und sie hatte recht – überall waren Feldwege.
Renés Mutter war nicht da, und das war besser so. René wusste, wo sie den Autoschlüssel hatte.
Wir bekamen das Auto irgendwie von seinem Platz vor dem Haus auf den

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