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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sagte Marvin. »Genau so sah mein Fahrrad auch aus. Du hast es gestohlen.«
»Ich in Teich gestiegen«, sagte René, »Fahrrad rausgeholt. Alles voll Entengrütze. Schau.«
Und er hob einen Arm, an dessen Ärmel etwas Dunkles klebte: die Entengrütze. Das fand ich ziemlich schlau von René, es war sozusagen ein Beweis. Ich war stehen geblieben, im Schatten eines Baums neben der Straße.
»Das ist auf jeden Fall Marvins Fahrrad«, sagte einer der anderen Jungs, und er und Marvin standen auf. Sie schwankten beim Stehen, man sah jetzt, dass sie ziemlich betrunken waren, und der andere Junge lachte. »Marvin und mir gehört es, weißt du, René, zusammen. Und weißt du auch, warum? Weil wir es brauchen. Du kannst ja nicht mal Fahrrad fahren, was willst du mit einem Fahrrad? Die Sachen gehören immer dem, der sie braucht, das ist doch logisch.«
»Ist meins«, sagte René trotzig und wollte das Fahrrad weiterschieben. Doch da stand noch ein Junge auf und stellte sich ihm in den Weg, breitbeinig, die Hände in den Gürtelschlaufen seiner Hose. Das war Falk-Kevin, ich kenne ihn, er ist manchmal mit mir im Bus. Ich glaube, er macht in der Stadt eine Lehre als Malerlehrling. Er ist ziemlich stark und dass manche von den jüngeren Kindern im Bus Angst haben vor ihm, weil er es lustig findet, sie zu erschrecken.
»Halt«, sagte Falk-Kevin zu René. »Hier darfst du nicht durch. Ist verboten für Fahrräder. Vor allem für geklaute.«
Und alle fünf brachen in schallendes Gelächter aus. Die letzten beiden waren jetzt auch aufgestanden, auf einmal standen sie alle um René und das blaue Fahrrad herum.
»Also gib … gib uns unser Rad schön zurück, ja?«, sagte der neben Marvin.
»Nein«, sagte René störrisch und versuchte, aus dem Kreis der Jungen auszubrechen, indem er das Fahrrad mit einem Schlenker zur Seite schob. Es gelang ihm sogar, einen Moment lang waren sie überrascht, und sie waren alle fünf zu betrunken, um schnell zu reagieren. Dann zog Marvin am Gepäckträger des Rades und Kevin-Falk packte den Lenker, und René hielt gleichzeitig mit beiden Händen die Stange des Rades fest. Keiner sagte mehr etwas, es war ein stummes Hin- und Hergeziehe, und ich dachte noch, das ist wie ein Kindergartenstreit um einen Teddybären, aber dann hob einer eine Bierflasche – ich weiß nicht, wer von ihnen, es ging plötzlich zu schnell.
Die Bierflasche sauste durch die Luft – Bier spritzte heraus, sie war noch halb voll – und landete mit einem Krachen auf der Fahrradstange. Auf Renés Händen, die die Stange umkrallt hielten.
René schrie und ließ los. Ich wollte auch schreien, und damit ich nicht schrie, steckte ich meine rechte Faust in meinen Mund und biss darauf.
Wenn ich geschrien hätte, hätten sie mich gesehen.
Marvin saß jetzt auf dem Rad, zwei von den anderen Jungs auf dem Gepäckträger. Kevin-Falk und noch einer liefen nebenher, johlend, und so verschwanden sie die Straße entlang in der Dunkelheit.
Kindergartenkinder, dachte ich, sind grausam.
René hockte mitten auf der Straße, eine Hand in der anderen verborgen, und weinte. Ich sah, wie die Schluchzer seinen hageren Körper schüttelten. Ich ging zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter, und er erschrak, aber dann sah er, dass ich es war. Er sagte gar nichts, weinte nur, und ich brachte ihn nach Hause. Ich weiß, wo er wohnt. Seine Mutter hat geschimpft, weil sie immer schimpft, obwohl sie es nicht so meint.
Ich habe gesagt, sie muss mit ihm zum Arzt fahren. Da war eine Menge Blut an seinen Händen.
Lovis fragte mich, wo um alles in der Welt ich gesteckt hätte, weil ich so spät zum Abendessen kam. Sie hätte sich Sorgen gemacht. Ich wollte ihr alles erzählen, aber irgendwie konnte ich nicht.
Ich muss es erst in meinem Kopf ordnen, ehe ich es jemandem erzähle.
Rosekast erzähle ich es wahrscheinlich ungeordnet, Rosekast und Lotta, aber die gelten nicht.
Heute bin ich noch mal zu René gegangen. Seine Hände waren beide eingegipst, jedenfalls teilweise. Seine Mutter hat gesagt, er hätte es doch tatsächlich geschafft, sich vier Finger brechen zu lassen, die Ring- und die Mittelfinger, und dass sie nicht begreift, wieso er immer in irgendwelche Kloppereien gerät.
Ich habe gesagt: »Er ist nicht geraten. Er war nur da. Sie haben ihn ganz von sich aus verkloppt. Weil er da war. Und weil das Fahrrad da war.«
Das Fahrrad, übrigens, haben sie wieder in den Löschteich geschmissen. Ich habe es dort treiben sehen.
Das Paradies ist weiter weg, als

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