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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ich dachte. Die Murmel rollt, scheint mir, überhaupt nicht in die richtige Richtung, und ich muss einen wirklich guten Plan erfinden, aber gerade weil ich muss, fällt mir keiner ein.

Ach so, die Kühe. Die müssen wir auch klauen. Fünfzehn Kühe. Das wird das nächste Problem. Aber warum wir die Kühe klauen müssen und was vorher noch passiert ist, das wird Eintrag 5, denn gerade jetzt ruft Lovis mich, zum Abendessen. Claas ist noch nicht da. Wenn wir warten, bis er kommt, sagt Lovis immer, versteinert das Essen. Das ist schade. Ich würde gerne manchmal versteinertes Essen essen und mit Claas reden. Man sieht ihn eigentlich nur am Wochenende, wenn er da nicht gerade Dienst hat.
Aber natürlich weiß ich, warum er so oft weg ist.
Lovis, glaube ich, weiß es nicht.

5.
    Ich wusste es nicht, nein. Verdammt.
    Ich schloss die Ledermappe, deren Schrift natürlich nach Eintrag 4 im alten System keinen Sinn mehr ergab. Es war spät in der Nacht; es hatte ewig gedauert, den letzten Eintrag zu entschlüsseln, bis zum Einbruch der Dunkelheit und darüber hinaus. Zwischendurch hatte ich Bratkartoffeln gemacht und mit Claas zusammen in der Küche gegessen und weiter ans Entschlüsseln gedacht.
    Mein linkes Bein war eingeschlafen. Ich humpelte hinüber ins Atelier und stand eine Weile mitten im Raum, umgeben von leeren Staffeleien. An der Wand lehnte eine Abstraktion in Grau und Weiß, auf der etwas zu sehen war, das ich selbst nicht erkannte.
    Und auf einmal entwickelte ich eine unheimliche Wut auf das Grau und Weiß, ich humpelte hinüber und trat dagegen, was das Bein weckte und für ein merkwürdiges elektrisches Kribbeln darin sorgte, und es war, als löste sich etwas in mir.
    Ich dachte an René, dem sie vier Finger gebrochen hatten wegen eines alten Fahrrads, und ich dachte an Tielows Hund und an die Marie, die David vor Tielows Wut gerettet und mit der ich noch nie ein Wort gesprochen hatte, weil ich wohl geglaubt hatte, dass eine Dorfnutte, Entschuldigung, mit einer Künstlerin wenig gemein hat. Ich hatte sie lange nicht gesehen, vielleicht wohnte sie nicht mehr hier. Ich dachte an die alte Frau Hemke, die aus einem Hochhausfenster vielleicht gerade jetzt das nutzlose nächtliche Meer ansah, und für jeden dieser Gedanken, für jeden dieser Menschen trat ich einmal gegen das grau-weiße Bild.
    »Warum«, flüsterte ich in die Nacht, »warum geschehen all diese schrecklichen Dinge? Ich habe sie nicht gesehen, ich hinter meiner blöden Mauer, aber David hat sie gesehen, und er war ganz allein damit, er hat die Dinge nie so geordnet bekommen, dass er mit mir darüber reden konnte …«
    Nein, dachte ich dann. Er war nicht ganz alleine damit gewesen. Er hatte Herrn Rosekast gehabt, und Lotta. Dass er mit Rosekast gesprochen hatte, machte mich noch wütender, und ich trat ein letztes Mal nach dem Bild, von dem nicht mehr viel übrig war als ein bisschen zerknitterte Leinwand.
    Es ist nicht wichtig, dachte ich, ich kann ein neues Bild malen. »Nein«, sagte ich leise. »Das kannst du nicht. Sieh es ein, Lovis. Du kannst nicht mehr malen. Du hast nicht gemalt, seit David den Unfall hatte. Vielleicht wirst du nie mehr malen.«
    Ich ließ mich neben die Ruine meines Bildes auf den Fußboden fallen, erschöpft, und fragte mich, ob es die Ruine meines Lebens war und ob allgemein das Leben hauptsächlich aus Ruinen bestand.
    »Warum geschehen all diese Dinge?«, wiederholte ich. »Warum werden Leute überfahren? Warum gibt es Leute, die nichts im Leben haben als Bushaltestellen und Bier? Warum kann mein Sohn mit einem verrückten alten Mann reden, aber nicht mit mir?«
    Ich wollte noch mehr fragen, alle Fragen der Welt, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Ateliers, und ich erschrak. Einen Moment lang erwartete ich, Davids kleine Gestalt durch diese Tür treten zu sehen, in seinem blauen Schlafanzug mit den seltsamen aufgedruckten Fossilien, deren Namen er alle im Internet nachgesehen hatte, als er den Schlafanzug von einer Tante geschenkt bekam. »Lovis?«, würde er sagen. »Was tust du da auf dem Fußboden? Ich konnte nicht schlafen … ich muss dir etwas erzählen. Hast du Zeit, oder musst du graue Kästchen malen?«
    »Ja«, würde ich sagen. »Ich habe jetzt immer Zeit. Ich koche uns einen Kakao, und dann setzen wir uns in die Küche und du erzählst mir alles, ja?«
    Aber es war selbstverständlich nicht David, es war Claas. Er war nackt, weil er Schlafanzüge nicht mochte, und sehr verschlafen; dass er so

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