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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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verschlafen war, ließ ihn noch nackter wirken. Nackt wie ein Tier ohne Fell, roh und verletzlich. Ich dachte, dass nackte Männer nicht schön sind.
    »Mit wem sprichst du?«, fragte Claas verwirrt. Mit wem sprach ich? Wen hatte ich gefragt, warum all die schrecklichen Dinge geschahen?
    »Gott«, sagte ich sehr leise.
    »Gott?«, wiederholte Claas und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Und ich dachte an die Nächte, in denen wir uns schlaftrunken einen schreienden, wenige Wochen alten David in die Arme gedrückt hatten, damit der eine wenigstens ein paar Stunden schlafen konnte, während der andere in der Nacht draußen spazieren ging, den beim Spazierengehen-nicht-schreienden David in der Babytrage unter der Jacke. Schon damals waren die Schienen, auf denen unsere Leben abliefen, auseinandergeglitten. Kaum merklich zuerst.
    Vielleicht war es Davids Geburt gewesen, die Geburt des Kindes, das wir uns so sehr und so lange gewünscht hatten. Das gemeinsame Sehnen und Träumen hatte uns zusammengeschweißt, all die Jahre, in denen wir kein Kind bekamen. David hatte uns sieben Jahre lang warten lassen, nachdem wir in dieses Haus gezogen waren. Als er da war und kein Sehnen mehr notwendig schien, war etwas zerbrochen.
    »Seit wann glaubst du an Gott?«, fragte Claas. »Und – an welchen?«
    Ich zuckte die Schultern. »Ich habe lange nicht mehr darüber nachgedacht«, sagte ich leise, »dass es theoretisch möglich wäre, an Gott zu glauben. David hat sich damit beschäftigt. Mit Gott oder vielmehr mit der Frage, ob es ein Paradies gibt.«
    Ich hatte gedacht, Claas würde sagen: »Ach so?« oder »Hat er dir das erzählt?«.
    Aber er sagte: »Ich weiß.«
    »Du … du weißt das?«
    Claas lehnte sich an den Türrahmen, wo das Mondlicht, das durchs Atelierfenster fiel, unwirkliche Schatten unter seine Wangenknochen malte. »Es war kurz vor Weihnachten«, sagte er. »Eigentlich sprachen wir über Herzhusten.« Er lächelte, und die Mondschatten machten sein Lächeln durchsichtig, als könnte man bis auf den Grund seiner Erinnerung sehen. Irgendwo in mir fand ich etwas wieder, ein kleines, abgebrochenes Stück der Liebe, die ich einmal gespürt hatte.
    »In der Küche«, sagte Claas, »frühmorgens um sechs.« Und ich sah die Küche, frühmorgens um sechs, an einem Vorweihnachtstag. Die 24 kleinen Taschen des Adventskalenders, den ich aus Filz gemacht hatte, hingen verheißungsvoll durch den Raum gespannt.
    »Er war da, als ich herunterkam«, sagte Claas. »Er saß auf der Anrichte und baumelte mit den Beinen. ›Ich wollte dich was fragen‹, sagte er. ›Kennst du dich aus mit Husten?‹
    ›Husten?‹, sagte ich. ›Nicht besonders. Ich bin ein Arzt für Herzen, das weißt du doch. Guten Morgen.‹
    ›Guten Morgen‹, sagte David. ›Ja, für Herzen, das weiß ich. Aber ich dachte, ich frage trotzdem, weil ich jemanden kenne, der schon lange Husten hat, und er will nicht zum Arzt gehen. Ich denke, er hat Angst. Ich meine, wenn du dich nur mit Herzen auskennst … Gibt es Herzhusten?‹
    ›Im weiteren Sinne schon‹, sagte ich und goss meinen Kaffee auf. ›Es gibt Leute, bei denen ist das Herz so kaputt, dass sich das Wasser in die Lunge zurückstaut. Weil das Herz all das Blut nicht mehr weggepumpt bekommt. Blut besteht ja zum Großteil aus Wasser …‹
    ›Ich weiß. Wir hatten eine Werkstatt da drüber. Die Körperwerkstatt. Also, wenn jemand immer nur hustet und hustet, und er ist schon ganz schwach vom Husten, ist das dann wohl Herzhusten?‹
    ›Es können tausend andere Sachen sein‹«, sagte ich. David baumelte weiter mit den Beinen. »›Jemand, der schon lange Husten hat, sollte zum Arzt gehen‹, sagte ich. ›Wer ist es denn?‹
    ›In der Religionswerkstatt‹, sagte David nachdenklich, ›hatten wir einen Vortrag über Jesus. Der hat alle diese Leute geheilt, ohne Medikamente … einen Blinden und einen Lahmen … auch jemanden mit Husten?‹
    ›Ich kenne mich in der Bibel nicht aus‹, sagte ich und trank einen Schluck Kaffee. ›Ich nehme an, der Blinde konnte hinterher wieder gehen und der Lahme wieder sehen?‹
    ›Andersherum‹, sagte David sehr ernst. ›Wie hat er das gemacht? Wenn man das herausfinden könnte, bräuchte man keine Ärzte.‹
    ›Ich glaube, Gott hat ihm geholfen‹, sagte ich. ›In diesen Geschichten jedenfalls. In Wirklichkeit …‹
    › … gibt es keinen Gott‹, sagte David. Und, nach einer Weile: ›Warum feiern wir eigentlich Weihnachten, Claas, wenn es keinen

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