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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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über Gott nachgedacht haben oder über das Paradies …«
    Eine Weile schwiegen wir.
    »Wir könnten uns duzen«, sagte ich.
    Er nickte, stumm, und ich bereute, dass ich das vorgeschlagen hatte, denn er konnte schlecht nein sagen. Was dachte er von mir? Dachte er: Hier ist eine verzweifelte Frau, die jemanden braucht, an den sie sich klammern kann? Dachte er: Warum klammert sie sich nicht an ihren Mann? Dachte er –
    »Was denken Sie denn über mich?«, fragte Samstag. Ich drehte mich um. Er sah mich mit seinem blauen Auge an, während das braune in den Frühling vor dem Fenster hinausblickte. Ich zuckte zusammen. Konnten Ärzte neuerdings Gedanken lesen? Gab es dafür Kurse wie für das Lesen von EKGs und Ultraschallbildern?
    »Ich denke«, sagte ich, »dass es sehr freundlich von Ihnen ist, mir zuzuhören.«
    »Und ich denke«, sagte er, »dass es die fünfzehn ist. Fünfzehn Kühe.«
    »Fünfzehn?«
    »Das könnte der Schlüssel zur nächsten Schriftart sein. Hätte er die Zahl so genau aufgeschrieben, wenn sie nicht wichtig wäre? Verschieben Sie mal … hm … die Eins auf die Fünfzehn. Zum Beispiel. Im Alphabet.«
    Er schenkte mir ein Lächeln, hell und weit wie der Frühling und doch merkwürdig durch seine Zweifarbigkeit. Es war wirklich ein Geschenk, denn ich hatte ihn noch nie so lächeln sehen. Eins auf fünfzehn, zwei auf sechzehn, drei auf siebzehn. Aus einem A würde also ein O. Alpha est et O, hatten wir früher in der Kirche gesungen. Indulci jubilo-o-o, Alpha est et O-o-o … Er ist der Anfang und das Ende. Er.
    Wäre er nur hier gewesen! Hätte ich nur an ihn glauben und ihn bitten können, mir beizustehen! Er hätte meine unsichtbare Mauer zerschlagen können, David wecken, alles zum Guten wenden. Aber er war nicht. Nirgends.
    Zwei Stunden später schlug ich zu Hause die Ledermappe wieder auf und entzifferte, diesmal, ohne die Finger auf der Schreibmaschine zu haben, den

Werkstattbericht – Eintrag 5
3. 12. 2011

Lotta hat gesagt, sie werfen auch immer Steine nach ihm. Nach René. Sie hat es gesagt, als wir zusammen durch den Wald gingen, zu Rosekasts Haus.
»Steine?«, fragte ich. »Wieso?«
»Nur so«, antwortete Lotta und balancierte über einen morschen Baumstamm. »Weil er zu dumm ist, um sich richtig zu wehren. Sie sind gemein, Marcel und die anderen Jungs. Sie können eigentlich gar nichts, weißt du, aber Steine werfen können sie. Ich meine, du denkst dir diese ganzen tollen Sachen aus, wie man ein Skelett von einer Amsel nachbaut oder alle Schnecken im Dorf auf dem Haus beschriftet und ihre Wanderung in eine Karte einzeichnet, weißt du noch? Oder wie man ein Paradies macht. Marcel und die anderen, die können das nicht, und deshalb werfen sie Steine.«
»Du«, sagte ich, »du kannst auch was.«
»Ich?«, fragte Lotta, ehrlich erstaunt, hopste von dem Baumstamm und sah mich an. »Was denn?«
Leider fiel mir in dem Moment nichts ein, und ich sagte: »Na, jedenfalls wirfst du keine Steine.«
»Nee«, sagte Lotta. »Das wär ja gemein. Und dem Marcel, weißt du, dem könnte man wohl ruhig auch mal eins mit der Bierflasche auf die Pfoten geben.«
»Das nützt nichts«, sagte ich. »Das wäre wieder etwas Böses. Es würde unserem Projekt rein mathematisch schaden, denn wenn wir das täten – angenommen, wir könnten es tun –, dann würde doch die Summe der bösen Dinge größer. Die schiefe Ebene würde sich zurückbewegen, und die Murmel würde in die verkehrte Richtung rollen und …«
Aber ich glaube, Lotta hörte nicht mehr zu, denn sie war schon vorausgehüpft, auf einem Bein, den schmalen Pfad entlang durch den Oktoberwind.
Rosekast saß auf seiner Bank, als wir bei ihm ankamen. Inzwischen wunderte mich das nicht mehr.
»Wetten«, flüsterte Lotta, »der schläft sogar auf der Bank?«
»Natürlich«, erwiderte ich ernst. »Damit er nachts das Wasser angucken und nachdenken kann, falls er aufwacht und ihm ein philosophisches Problem einfällt.«
Die Bücher im Wohnzimmer waren zum ersten Mal nicht herausgerissen. Hatte Rosekast die verlorene Religion gefunden? Musste er jetzt nicht mehr nach ihr suchen? Oder war der andere, der die Bücher ständig herausriss, nicht wieder da gewesen? Dafür war heute der Couchtisch umgekippt; er streckte seine vier kurzen Beine in die Luft wie ein atemnötiger Dackel. (ich finde dieses Wort schön, atemnötig)
(Liste der Wörter, die ich schön

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