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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Projekteintrag hindurch, obwohl so viele andere kranke Kinder auf ihn warteten. Nein, dachte ich. Diese Kinder waren jenseits von Begriffen wie Warten. Es waren die Geräte, die auf Samstag warteten, er war wie ein Mechaniker oder eher wie der Pilot eines kompliziert zu bedienenden Raumschiffs inmitten digitaler Anzeigen, die auf den Input von Medikamenten und Flüssigkeit hin Zahlen ausspuckten und den Output der atmenden (oder beatmeten) Masse unter den Geräten kontrollierten.
    »Frau Berek? Was … haben Sie die Leute gefragt?«
    »Was schlechte Detektive so fragen.« Ich hörte mich selbst leise lachen. »Kannten Sie das Opfer? Wo waren Sie am Nachmittag des zweiten Mai? Waren Sie alleine, oder kann jemand bezeugen, dass Sie waren, wo Sie waren? Nicht mit diesen Worten, natürlich …«
    »Sie glauben, einer von den Leuten, die David in seinem Bericht erwähnt, hat ihn an der Schule abgepasst und entführt.«
    Ich zuckte die Schultern. »Möglich ist es.«
    »Und ihn dann Stunden später in der Dämmerung aus dem Auto gelassen und auf die Straße geschubst?«
    »Möglich ist es.«
    »Aber etwas merkwürdig ist es auch. Vor allem – warum drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Südstadt? Wenn man gegen Mittag in Stralsund losfährt, kann man bis zur Dämmerung wer weiß wo sein. In Hamburg. In Kiel. In Dänemark. Und es erklärt nicht, dass David alleine die Straße entlanggegangen ist, statt in den Bus nach Hause zu steigen.«
    »Jemand könnte ihm eine Nachricht geschickt haben. Triff mich da und da.«
    »Sie haben recht.« Er seufzte. »Sie denken tatsächlich wie ein schlechter Fernsehdetektiv.«
    Ich sah ihn an, auf einmal ärgerlich. »Sie brauchen mir ja nicht zuzuhören.«
    »Aber ich möchte wissen, was passiert ist.« Er hörte auf, sich mit dem Katheter zu beschäftigen. »Ich möchte auch wissen, wie dieser Junge auf die Autobahn gekommen ist. Was hat Tielow gesagt? Und wen haben Sie noch gefragt?«
    »Lottas Bruder, Marcel. Und René, ich habe René gefragt, ob die Jungs, die ihn verkloppt haben, wussten, dass David sie beobachtet hat. René hat nur die Schultern gezuckt, seine Mutter hat gejammert und geraucht, und Tielow hat gesagt, ich soll machen, dass ich weiterkomme. Marcel meinte, er erinnert sich an kein blaues Fahrrad, David hätte sich was ausgedacht. Lotta hat auf einem Pfosten beim Gartenzaun gesessen und mich bloß angeguckt, als ob sie sagen wollte: Das musst du wohl selbst wissen, ob David die Wahrheit geschrieben hat oder nicht. Irgendwie vorwurfsvoll. Lottas Mutter saß draußen und schälte Kartoffeln. Sie sieht sehr alt aus. Voller Falten im Gesicht. Aber so alt kann sie ja noch nicht sein …«
    Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und tauchte aus meinem Redefluss auf wie aus einem kalten Strom, und ich merkte, dass ich so geredet hatte, wie David schrieb. Die gleiche Art von Sätzen.
    »Sie machen sich eine Menge Gedanken«, sagte Samstag, dem die Hand auf meiner Schulter gehörte. »Es ist ein bisschen viel. Lotta und ihre Familie und dieser René und Hunde auf der Veranda …«
    »Es ist nur ein Hund«, sagte ich. »Und für David war es wohl auch ein bisschen viel. Er plante, fünfzehn Kühe zu entführen … Ich muss erst begreifen, wie ich den nächsten Eintrag zu entschlüsseln habe, um zu erfahren, ob er es getan hat.«
    Ich stand auf und ging zum Fenster. Unten vor der Klinik blühten die Birnbäume. Ich dachte an Claas. Claas und sein frühmorgendliches Gespräch mit David. Mit Claas hatte er gesprochen. Claas besaß keine Mauer.
    »Eine Sache stand über allem«, sagte ich leise. »Eine Frage umfasste alle anderen Fragen, die David gestellt hat. Die Frage, ob man das Paradies erschaffen kann. Und ob man es erschaffen muss, oder ob jemand anderer sich darum kümmert. Die Frage nach der Existenz von Gott. Oder … einem Gott. Wir haben ihn nicht christlich erzogen, wir sind keine Christen, Claas und ich. Glauben Sie an Gott?«
    »Ich glaube an EKGs«, sagte Samstag. Er stand so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem im Nacken spürte. Es war nicht unbedingt ein unangenehmes Gefühl. »Ich glaube, dass es unmöglich ist, seine eigenen Kinder zu verstehen. Je mehr man sie liebt, wissen Sie …, desto schwerer ist es. Ich … habe auch welche. Kinder. Zwei Stück.«
    »Oh«, sagte ich.
    »Sie sind nicht hier, sie sind mit ihrer Mutter nach Bremen gezogen. Schon lange her. Sie liegen nicht im Koma. Sie sind nicht hochbegabt. Ich habe keine Ahnung, ob sie je

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