Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
merkte, dass sie zitterte. Ich hatte Rosekast gesucht, und nun, da ich ihn gefunden hatte, fühlte ich mich nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Ich fühlte mich wieder wie das kleine schüchterne Mädchen, das keiner verstand.
    Hinter dem Haus glitzerte es zwischen den Bäumen blau: ein See. Da lachte ich beinahe. David hatte nicht wirklich darauf geachtet, er hatte die ganze Zeit gedacht, Rosekast blickte auf eine Bucht des Meeres hinaus, dabei war es immer nur ein See gewesen. Nichts war, wie es schien.
    Ich stellte mir vor, wie Rosekast jetzt aus der Tür treten und mich ansehen würde, ein bärtiger alter Mann, ungepflegt, verwildert.
    »Wer sind Sie?«, würde er fragen, und ich würde all meinen Mut zusammennehmen und sagen: »Davids Mutter. Erklären Sie mir, was mit meinem Sohn passiert ist.«
    »Ich bin nicht hier, um zu erklären«, hörte ich ihn antworten. »Ich bin hier, um die richtigen Fragen zu stellen. Die erste Frage ist natürlich, was er auf der Autobahn gemacht hat.«
    Es könnte auch anders laufen. Ich könnte ihn zum Beispiel anschreien. Ein Teil von mir wollte genau das tun, auch wenn ich wusste, dass das kleine Mädchen in mir sich nicht traute.
    »Sie haben mir meinen Sohn weggenommen!«, wollte ich gern schreien. »Ihnen! Ihnen hat er Dinge erzählt, mir nicht! Sie haben ihn mit Ihrer Philosophie und Ihrem leisen Herumsitzen angefüttert wie einen streunenden Hund, aber es steckt doch mehr dahinter, oder nicht? Sie wissen genau, wieso David am zweiten Mai verschwunden ist! Und die Marie! Wohin ist die Marie verschwunden? Das wissen Sie doch auch!«
    Und er würde mir die Tür vor der Nase zuknallen.
    Nein, ich musste anders anfangen. Würde er wissen, wer ich war? Konnte ich so tun, als wäre ich jemand anderer? Es war eine durchaus reizvolle Vorstellung, jemand anderer zu sein, selbst für Minuten. Jemand, der keinen Sohn hatte, der im Koma lag. Eine Person, die als kleines Mädchen Glitzeraufkleber gesammelt hatte wie alle anderen kleinen Mädchen. Die mit ihrem Ehemann über Kartoffelpuffer stritt und von Beruf Lehrerin war oder sonst etwas, das man verstehen konnte. Eine glückliche Person, die im Wald Vögel beobachtet hatte und hier nur nach der Uhrzeit fragen wollte.
    Ich schüttelte den Kopf, öffnete das eiserne Gartentörchen, ging den Weg entlang und drückte auf den kleinen runden Plastikklingelknopf neben der Tür.
    Dann stellte ich mich sehr gerade hin und atmete tief durch. Ich wusste, was ich sagen würde. Ich, als schlechter Detektiv. Ich würde sagen: »David ist aufgewacht. Er lässt Sie grüßen.«

    Ich wartete lange darauf, dass Rosekast die Tür öffnete. Er öffnete nicht. Vielleicht hatte er mich durch eines der niedrigen Fenster gesehen und wusste, wer ich war. Vielleicht saß er hinter dem Haus im Garten auf seiner Lieblingsbank. Ich drückte vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür gab nicht nach. Rosekast war überhaupt nicht da. Er musste vor kurzem noch da gewesen sein, auf der Fensterbank neben der Tür lag ein angebissenes Butterbrot, das er vielleicht abgelegt hatte, um eben jene Tür zuzuschließen, um es dann zu vergessen und ohne es loszugehen. Es erschien mir eine typische Geste für jemanden wie Rosekast, ein Butterbrot auf einem Fensterbrett zu vergessen.
    Irgendein Tier würde es finden, ehe er zurückkam.
    Schloss jemand seine Haustür ab, um in den Garten zu gehen? Ich rief, nur für alle Fälle. Fünfmal. Ziemlich laut. Niemand antwortete. Er war tatsächlich nicht hier. Der Hund hatte eine Runde ums Haus gedreht, setzte sich jetzt mir zu Füßen und sah mich erwartungsvoll an.
    »Du könntest seine Spur finden«, sagte ich. »Wohin ist er gegangen?« Aber die Lust am Spurenfinden schien den Hund verlassen zu haben. Vielleicht war er tatsächlich nur einem Reh gefolgt, das sich vor kurzem in Rosekasts Garten verirrt hatte. Ich seufzte, und der Hund schien ebenfalls zu seufzen. Schließlich durchsuchte ich meine Jackentaschen und fand darin neben zwei Packungen abgelaufener Fishermen’s und mehreren alten Papiertaschentüchern ein Stück Papier und einen Stift. Das Stück Papier war eine Quittung von der Post, ich hatte vor einer Ewigkeit ein großformatiges Bild versichert verschickt. Der Stift war ein Bleistift von IKEA. Ich war vor einer Ewigkeit bei IKEA gewesen, um – ich wusste es noch genau – ein Bauset für eine Art Kletterwand zu kaufen, die David sich gewünscht hatte und die wir in der alten Scheune für ihn angebracht hatten.

Weitere Kostenlose Bücher