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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gewöhnlichen Kuh war es womöglich sogar egal, ob sie frei war. Aber nein, dachte ich, diese Kühe wussten einfach nicht, was das war: Freiheit. Sie wussten gar nicht, was ihnen fehlte. Hatten sie deshalb weniger Anrecht auf Freiheit als beispielsweise Kühe, die schon einmal in Freiheit gelebt hatten? Wenn es eine fünfte Dimension gäbe, neben den drei Dimensionen des Raumes und der vielleicht-einen Dimension der Zeit, und jemand, zum Beispiel ein Außerirdischer, käme und wollte sie uns erklären, nur mal so angenommen. Würden wir das überhaupt hören wollen? Vielleicht würde sie uns beunruhigen, und wir würden uns die Ohren zuhalten? Hatten wir ein Anrecht auf die fünfte Dimension, waren wir bemitleidenswert, weil wir sie bisher nicht verstanden hatten? Von der Sicht des Außerirdischen aus natürlich schon …
»David«, flüsterte Lotta. »Was ist los? Du stehst ja genauso rum wie diese Viecher. Was machen wir denn jetzt? Gar nichts oder was?« Sie stand neben mir auf dem Hof, vor der offenen Stalltür, und hatte die Hände in ihre Ärmel gesteckt und fror. Immerhin ist Dezember.
»Ich … dachte gerade darüber nach, ob Kühe ein Anrecht auf eine fünfte Dimension haben«, sagte ich. »Ich wünschte, Rosekast wäre hier … aber ich denke, wir machen was. Wo wir schon die Tür aufgeschlossen haben.«
»Stöcke«, sagte Celia praktisch. »Man kann sie hauen, mit Stöcken.«
»Du willst sie in die Freiheit prügeln?«, fragte ich.
»Ich nicht«, sagte Celia und zuckte die Schultern. »Mir ist es egal. Aber dann gehen sie vielleicht.«
Da rannten Lotta und ich los und holten Stöcke vom Waldrand, und ich dachte, bis wir zurückkommen, ist irgendetwas passiert, aber es war gar nichts passiert, Celia und die Küche standen stumm in der Dunkelheit und warteten geduldig.
Und dann trieben wir die Kühe mit unseren Stöcken aus dem Stall, wir trauten uns nicht, zu rufen, wir zischten ihnen nur ganz leise zu, dass es uns leidtat und dass es sein musste und dass sie jetzt gefälligst ihre Hufe bewegen sollten. Schließlich trotteten die fünfzehn Kühe den Weg entlang zum Wald, und alles sah noch immer sehr vage und ungewiss aus. Wir trieben die dunklen Kuh-Dinger auf das riesige dunkle Wald-Ding zu, Lotta und Celia und ich, und dort verschmolzen sie miteinander zu einem ganzen großen Ding in der Dunkelheit, einer Einheit aus Kühen und Bäumen, und es war sehr schwer, überhaupt noch etwas auseinanderzuhalten.
»Lauft!«, sagte ich zu den Kühen. »Lauf jetzt hinein in den Wald und versteckt euch! Ich und Lotta, wir kommen morgen, um euch zu melken, so wie wir das von Celia gelernt haben. Bis morgen, Kühe. Jetzt lauft.«
Ich hörte, wie sich das Schnauben und Schnaufen der Kühe langsam entfernte. Sie hatten es noch immer nicht besonders eilig. Aber Celia begann, es eilig zu haben, weil sie den Schlüssel zurückbringen musste. Ich hoffte, der Bauer würde denken, er hätte vergessen, die Tür abzuschließen, und die Kühe hätten die einzelnen Türen ihrer Boxen von selbst aufgestoßen.
Als ich später in meinem Bett lag, träumte ich von den fünfzehn Kühen, die auf einer Lichtung tief im Wald standen. Es hatte geschneit; die Hufe der Kühe versanken im tiefen Weiß, und auf einem altmodischen Melkschemel, den wir natürlich nicht besitzen, saß Lotta und molk eine von ihnen. Und auch die Milch war weiß, so weiß wie der Schnee, in den sie floss, weil Lotta keinen Eimer untergestellt hatte. Da war ich mir auf einmal nicht mehr sicher, ob es wirklich Schnee war, der die Lichtung bedeckte, oder vielleicht Milch, literweise, tonnenweise Milch. Sie überschwemmte die Lichtung, überschwemmte den Wald, floss über den Hügel ins Dorf hinein, stieg und stieg, bis sie den Jungs in der Bushaltestelle bis zum Hals gestiegen war. Sie hielt nicht an, sie stieg weiter und weiter, stieg über die Köpfe der Jungs, über die Köpfe aller Menschen im Dorf, und das Letzte, was ich sah, ehe die Milch alles bedeckte, war Renés ausgestreckte Hand. Er winkte aus der Milch heraus, so wie er den Autos winkte. Dann stieg die Milch über die Hausdächer, stieg über die Spitze des niedrigen alten Kirchturms neben unserem Haus … und es gab nichts mehr. Die ganze Welt bestand aus Weiß. Dort, wo einst unser Dorf gewesen war, schwamm nur noch eine einsame Schwimmerin mit langem schwarzem Haar.
Ich dachte den ganzen nächsten Tag in der Schule über den Traum nach und darüber, wo wohl Lovis und Claas gewesen waren. Oder Lotta.

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