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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nicht wiedergekommen.« Davids Philosophenfreund lebte im Wald. Im Wald hatte ich die einsame Spaziergängerin getroffen, die behauptete, jemanden zu suchen. Sogar Lottas Schwester Livia tauchte ab und zu am Waldrand auf, auf dem Weg, der zu Herrn Jarsens Anwesen führte. David war immer zum Nachdenken in den Wald gegangen. Lag die Lösung aller Rätsel dort, zwischen den frühjahrsgrünen Bäumen?
    Ich holte den Hund, band ihm einen alten Stoffgürtel um und befestigte einen Strick daran und lenkte meine Schritte zum Wald. Ich musste endlich, endlich Rosekast finden.

    Der Wald war sehr grün.
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er im letzten Winter gewesen war, grau, winddurchtost, blätterlos. Es nützte nichts, die Augen zu schließen, die Vögel sangen lauthals den Mai in die Luft hinaus. Im November hatte höchstens der Sturm in den Bäumen gesungen, und vielleicht hatte hier und da eine schwarze Krähe gekreischt. Anfang März war der Wald noch kahl gewesen, bis auf ein paar allererste Knopsen vielleicht. Anfang März war die Marie in den Wald gegangen … War sie auf die gleiche Weise verschwunden wie David? Aber sie war nicht auf der Autobahn wieder aufgetaucht. Oder doch?
    Auf einmal kam mir der Wald bedrohlich vor, trotz seiner zarten frühlingsgrünen Blätterspitzen, und je tiefer ich hineinging, desto seltsamer wurde mir zumute. Ich begegnete niemandem, nicht einmal der einsamen Spaziergängerin, und gerade der Vogelgesang, gerade die grünen Knospen an den Bäumen kamen mir auf einmal verloren vor, als bestünde die ganze Schönheit des Waldes aus nichts als Ironie. Als sagte der Wald mit verführerisch sanfter Stimme: Alles ist gut, mein Kind, die Welt ist schön. Ja, da draußen werfen sie Steine, sie werfen Worte, da draußen sperren sie Menschen in fünfte Stockwerke und Kühe hinter Gitter, da draußen gibt es ganze Krankenhausstationen voller leidender, sterbender Seelen, es gibt Grausamkeit, Folter und Krieg – warum sollte uns das kümmern, dich und mich? Ich bin voll süßem Blütenduft, und du bist frei, in mir herumzuspazieren, vergessen wir doch das Leid der anderen, vergessen wir ihre Schmerzen und ihre Qualen … Am Wegesrand reckte sich mir das filigrane Kunstwerk eines violetten Veilchens aus dem Moos entgegen, und ich trat darauf und zerquetschte es unter meinem Schuh, weil ich böse war auf die verlogene Schönheit des Waldes. Der Hund sah mich verwundert an.
    »Kindisch«, flüsterte ich. »Ich bin schon wieder kindisch, ich weiß.«
    Und dann wanderte ich drei Stunden am Meer entlang, so gut das im Wald möglich war. Der Hund trottete brav hinter mir her, ohne sich zu beschweren. Die Gerüche, die ihn hätten aufregen sollen, schienen ihn nur mäßig zu interessieren, er wirkte, als wäre er in Gedanken. Vielleicht dachte er an David. Wir fanden Rosekasts Haus nicht. Nirgends gab es vier Eichen, hinter denen ein kleiner Garten mit einer alten Hütte lag. Ich resignierte genau wie beim letzten Mal, ich ging einen anderen Weg zurück, nicht am Meer entlang, es war eigentlich mehr ein Pfad als ein Weg, selten genutzt, vielleicht nur vom Wild und seinen Jägern.
    Und dann blieb der Hund stehen, so plötzlich, dass ich erschrak. Er senkte die Nase tiefer auf den Boden als zuvor, roch an etwas – und zog auf einmal an der Leine, und ich folgte ihm, Hals über Kopf den Pfad entlang, den Strick umklammernd. Ein Stück Wild, dachte ich. Er verfolgt ein Stück Wild. Ein Reh oder ein Wildschwein … Ich hatte keine Lust, einem Wildschwein zu begegnen.
    »Halt!«, rief ich. »Bleib stehen! Bleib! Stehen!«
    Der Hund blieb stehen. Doch das lag nicht daran, dass er mir gehorchte, sondern daran, dass er da angekommen war, wo ihn die Spur hingeführt hatte. Vor einem kleinen Gartentor seitlich des Weges. Jemand schien die Brennnesseln, die dort wuchsen, vor einiger Zeit ausgerissen zu haben, aber sie wuchsen bereits wieder nach. Der kleine Weg dahinter führte zur Tür einer Hütte.
    An dem eisernen Tor hing ein Briefkasten aus Blech. Jemand hatte das Schild daran vor nicht allzu langer Zeit mit einem Filzstift nachgemalt.
    »Rosekast«, flüsterte ich.
    Der Hund hatte sein Haus gefunden. Welcher Spur war er gefolgt? Davids Spur? Nein, sagte ich mir, sie konnte nicht so frisch sein, dass er sie noch roch. Vermutlich war es die Spur von Rosekast selbst, vermutlich kannte der Hund seinen Geruch, weil David ihn mitgenommen hatte.
    Ich sah meine Hand an, die das Ende des Stricks hielt, und

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