Paradies für alle: Roman (German Edition)
Weihnachten danach? Waren es später immer die falschen Dinge gewesen, die wir David geschenkt hatten? Oder war er glücklich gewesen bis zu diesem einen Weihnachten, an dem der Inhalt von zwei Pappkartons wichtiger gewesen war als alles andere auf der Welt? Wenn ich es gewusst hätte, dachte ich. Wenn ich es nur gewusst hätte. Ich hätte Geld in die Kartons stecken können, ganz heimlich.
»Ich kann es immer noch«, flüsterte ich. »David, ich kann es immer noch! Ich werde mich erkundigen, was es kostet, einen ambulanten Pflegedienst zu bezahlen und so etwas wie Essen auf Rädern … oder ich kann … ich kann für Frau Hemke kochen, das ist in Ordnung, ich kann vorbeigehen und mich kümmern, auch um die anderen Sachen. Darum, dass sie nicht vergisst, zu Bett zu gehen oder aufzustehen oder … Es ist ganz leicht.« Es wäre nicht leicht, dachte ich. Es würde eine Menge Zeit bedeuten, die mir fehlen würde, um mit der Welt meiner Bilder allein zu sein, der Welt der Abstraktionen, die ich als Einzige verstand und die mich als Einzige verstanden. Wie ernst hatte ich es gemeint, als ich zu Claas gesagt hatte, ich würde vielleicht nie wieder malen? Nicht sehr ernst. Nicht länger als eine Minute.
Aber vielleicht, dachte ich, ist das Wichtigste überhaupt nicht, von jemandem oder etwas verstanden zu werden. Das war ein sehr neuer Gedanke. Es war einfacher, zuerst über Frau Hemke nachzudenken.
»Ich würde dir ein Pferd schenken«, flüsterte ich, »wenn du eines wolltest, David. Und so hätten wir also kein Pferd, sondern eine alte Frau. Du hättest sie quasi adoptiert … Das ist ziemlich verrückt, was? Aber vielleicht … vielleicht kann ich sie zurückholen. Ich fahre hin und bringe ihr die Kekse und sehe mir an, ob das gehen könnte, sie zurückzuholen. Ich würde sie immer besuchen, ich würde mich um den Garten kümmern … ich könnte das tun, weißt du. Lotta … könnte mir vielleicht helfen. Weil sie sich schon auskennt mit Frau Hemkes Garten. Es wäre ein Weihnachtsgeschenk für dich. Und für Frau Hemke. Verspätet zwar, oder verfrüht, aber wen interessiert das schon? Jesus ist sowieso nicht an Weihnachten geboren worden, das hast du selbst gesagt.«
Ich stand auf und ging hinunter in die Küche, den Hund auf den Fersen. Ich packte die Kekse in eine Dose, warf dem Hund einen zu, den er mit erstaunlichem Geschick in der Luft fing, und sah eine Weile hinaus in den Abend, wo der Schnee in sanften Flocken auf den Garten rieselte. Die schwarzen Schafe hatten weiße Rücken bekommen, und auf dem Verandatisch hatte sich der Schnee in kleinen Haufen gesammelt. Die Sonne fiel auf eine Seite des Tisches und brachte sein Weiß zum Leuchten. Wenn wir dieses Jahr den Baum holen würden, dachte ich, ist David wieder da, wir werden zusammen in den Wald gehen, egal, ob er im Rollstuhl sitzt oder ob ich ihn tragen muss. Wie lange war es noch hin bis Weihnachten? Ich sah auf den Kalender und schüttelte den Kopf.
»Lovis«, sagte ich zu mir selbst. »Es ist Ende Mai.«
Der Schnee vor dem Fenster stammte aus Davids Projektbericht, nicht aus der Realität. Ich blinzelte und trat näher an die Verandatür. Doch, der Schnee war da, kein Zweifel. Es war nur kein Schnee. Es waren die weißen Blütenblätter des Birnbaums, der neben dem Haus stand. Ihre Zeit war vorüber, der Wind trug sie von den Ästen und legte sie sacht ins Fell der Schafe, auf die Wiese, auf den Tisch, um mitzuteilen, dass der Frühling ging und der Sommer kam. Seit Davids Unfall waren drei Wochen vergangen.
Ich stellte mir vor, wie ich mit Frau Hemke am Verandatisch saß und Kaffee trank, mitten zwischen den weißen Blütenblättern – falls Frau Hemke mobil genug war, an diesen Tisch gesetzt zu werden. Celia könnte dabei sein, mit ihrem Baby … und Herr Wenter, der inzwischen sicher wieder gesund war, und all die anderen Leute von Davids Liste. In meiner Vorstellung redeten sie alle durcheinander, fröhlich und ausgelassen, und in ihrer Mitte saß David, man sah seine Beine gar nicht hinter dem Tisch, man sah nur, dass er so fröhlich und ausgelassen war wie die anderen. Kaffeetrinken im Paradies, dachte ich. Das Bild war wie die letzte Szene in einem Hollywoodfilm. Es war unglaublich kitschig. Vor allem das Baby.
Und dann sah ich, dass wirklich jemand am Verandatisch saß. Auf der rechten Seite, die die Maisonne aussparte. Es war Claas.
Er saß vor einem leeren Joghurtglas, neben dem der grüne Metalldeckel lag, und ich brauchte
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