Paradies für alle: Roman (German Edition)
setzte mich ins Auto. Die Dose mit den Keksen nahm ich mit.
Renés Winken war nur ein verwischter Gedanke im Rückspiegel. Aber auf einmal fiel mir etwas ein. Mir fiel Davids allerletzter Wutanfall ein, und warum er ihn bekommen hatte. Er hatte mich gefragt, ob ich René mein Auto leihen würde. Ich hatte nein gesagt, natürlich hatte ich nein gesagt, und wenn ich jetzt an das alte braune Auto vor Renés Haus dachte, das mit der blauen, ausgewechselten Tür, war ich froh, dass ich nein gesagt hatte, denn das hatte er auch »kaputtgekriegt«, hatte Renés Mutter gesagt. Warum hatte David gewollt, dass ich René mein Auto lieh? Was hätte es René genutzt, mein Auto zu fahren? Hätte es irgendetwas geändert? Wäre David am zweiten Mai in den Bus nach Hause gestiegen, wenn ich René mein Auto geliehen hätte?
Ich wollte darüber nachdenken, aber Claas’ Worte kamen mir dazwischen, schoben sich vor René.
Wenn wir ihn intubieren …
Bei jeder Kurve fielen die Ledermappe und die Keksdose, die ich mitgenommen hatte, auf den Rücksitzen durcheinander, während Claas’ Worte mich die Autobahn entlangjagten, ihre kühle Vernunft wie Peitschenhiebe:
David hatte einen Unfall. Auf der A 20. Wir fahren sofort los.
Wenn wir ihn nicht intubieren, machen wir es ihm leichter.
Als ich auf dem Klinikparkplatz aus dem Wagen sprang, sprang noch jemand heraus. Es war der Hund mit dem zerzausten weißen Fell. Er musste mit eingestiegen sein, ohne dass ich es gemerkt hatte, und sich hinten im Auto unter den Sitzen versteckt haben. Der Hund folgte mir in die Klinik, die Treppen hinauf; weil ich rannte, rannte er auch, und dann standen wir auf dem Flur der Intensivstation, und erst die Schwester mit den kurzen grauen Haaren, Erika, hielt uns auf.
»Der Hund nicht«, sagte sie. »Das geht nicht.«
Ich nickte. »Natürlich nicht.«
Der Hund blieb verwirrt zurück, ließ sich von Schwester Erika vor der Station anbinden, er tat mir leid, und ich winkte ihm. »Ich komme wieder«, sagte ich, obwohl er mich gar nicht mehr hören konnte, »ich verlasse dich nicht. Du bist Davids Hund, und ich passe auf dich auf, so lange es sein muss …«
David lag so da wie stets, auf dem Rücken, das blasse Gesicht zur Decke gewandt. Doch an diesem Tag war es nicht ganz so blass, seine Wangen waren gerötet, und als ich die Hand darauflegte, da glühte er. Die rotblonden Haarsträhnen, die ihm unter dem Verband in die Stirn fielen, waren nassgeschwitzt. Er hatte noch immer Fieber. Das Atmen schien ihm wirklich schwerzufallen, ich hörte es in seiner Brust rasseln, und ich dachte an all die Nächte, in denen ich neben seinem Kinderbett gesessen hatte, wenn er krank gewesen war. An all die Fieberzäpfchen und Hustensaftflaschen und Wadenwickel, all die Kannen Tee, die ich gemacht hatte, und all die Tuben mit Eukalyptussalbe, mit denen ich seine Brust eingerieben hatte.
Ich sah ihn an und wünschte mir, ich könnte mich einfach neben ihn in dieses Bett legen oder besser noch, ihn herausheben, auf meinen Armen aus diesem unerträglich sterilen Zimmer tragen, die Treppen hinunter, fort, fort aus dem Krankenhaus, mit ihm aus dem Weiß der Wände fliehen wie aus einem Gefängnis … Wohin? In eine Vergangenheit, in der alles noch gut war. In eine Zukunft, in der wieder alles gut sein wird. Dort würde die Sonne scheinen, golden und still, ich konnte es spüren.
Natürlich trug ich ihn nirgendwohin.
Ich zog mir einen Stuhl heran und nahm seine Hand und fragte mich, ob die Schwester, die im Raum war, mir verbieten würde, seine Hand zu nehmen. Aber das war abstrus, natürlich tat sie das nicht.
»Es geht vorbei«, flüsterte ich. »Jedes Fieber, jeder Husten geht irgendwann vorbei. Sieh es so – du kannst im Moment sowieso nicht viel tun. Da ist es ganz praktisch, dass du den Husten des Jahres auch gleich noch abhakst …« Mein Lachen klang so künstlich, dass es mir peinlich war. »Natürlich bedeutet es nichts, es ist nur Husten. Nur eine Erkältung.«
Seine Finger waren ebenfalls warm vom Fieber, reglos und schlaff lagen sie in meiner Hand, wie Teig, und ich führte sie zum Mund und küsste sie, jeden Finger einzeln, als wäre ich eine Fee aus einem Märchen und könnte ihn mit meinem Kuss verzaubern, oder ihn entzaubern – ihn den Klauen des Zaubers entreißen, der ihn hundert Jahre schlafen ließ. Aber ich war keine Fee, ich war Lovis Berek. Eine Weile hatte ich geglaubt, Lovis Berek wäre jemand, weil ihr Name für teures, abstraktes Grau
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