Paradies für alle: Roman (German Edition)
einen Moment, um zu begreifen, dass das Joghurtglas als Aschenbecher diente und der Deckel als Zigarettenablage. Claas saß dort, im Schatten, und rauchte. Er sah nicht zu mir, er wusste nicht, dass ich an der Verandatür stand und ihn beobachtete. Es war Abend, doch der Abend war jung. Wie lange war er schon zu Hause? Der Zahl der Kippen im Joghurtglas nach zu schließen saß er schon eine Weile dort. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich Claas das letzte Mal hatte rauchen sehen, doch es gelang mir nicht. Als ich ihn kennengelernt hatte, hatte er geraucht – gelegentlich, nur in Gesellschaft, so wie andere Leute Sekt trinken. Dann hatte er irgendwann ganz damit aufgehört, es musste vor Jahren gewesen sein. In dem Joghurtglas befand sich beinahe eine ganze Packung toter Zigaretten, und ich hatte nicht das Gefühl, dass es alte Kippen waren.
Ich versuchte, Claas’ Gesicht in den Schatten zu ergründen, aber ich sah es nur im Profil, als Scherenschnitt vor der hellen, sonnenbeschienenen Schafsweide. Ich kannte dieses Profil so gut wie jeden Winkel des Hauses, doch in diesem Moment, im Zusammenhang mit der Zigarette, die die Lippen des Profils rauchten, schien es mir ganz neu. Auf meiner Veranda saß ein Fremder. Er sah sehr dunkel aus und sehr ernst. Ein weißes Birnenblütenblatt legte sich auf sein zu kurzes schwarzes Haar, schien keinen Halt zu finden und glitt hinab, floh.
Ich wollte mich umdrehen und den Fremden vergessen, an die Kekse denken, an meinen Besuch im Seniorenheim Friedensstift, ich musste herausfinden, wo es sich genau befand –
Aber die Stille des Fremden schmerzte in mir. Ich wusste, dass ich ihm nicht helfen konnte, dass die Mauer da war. Trotzdem öffnete ich die Verandatür.
»Hallo Claas«, sagte ich. Der Fremde wandte den Kopf und sah mich an.
Seine Augen waren gerötet, vielleicht vom Rauch der ungewohnt vielen Zigaretten.
»Wie kann man so eine Entscheidung fällen«, sagte er, und es war keine Frage, denn da war kein Fragezeichen an ihrem Ende, »wie kann man so eine Entscheidung fällen.«
»Was für eine Entscheidung?«, fragte ich und setzte mich ihm gegenüber. »Wovon redest du?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich es wissen wollte.
Claas zog an seiner Zigarette, sah weg, drückte die Zigarette auf dem grünen Joghurt-Metalldeckel aus, sah mich wieder an.
»Was für eine Entscheidung?«, wiederholte ich. »Was ist denn passiert?«
Er holte die Packung aus seiner Tasche, zündete eine neue Zigarette an und sagte nichts.
»Jetzt rede doch mit mir!«, rief ich. »Hat es was mit David zu tun?«
Er nickte, stumm, und ich wäre beinahe aufgesprungen, um ihn zu schütteln. Mein Mitleid mit dem Fremden war verschwunden, in diesem Moment hasste ich ihn dafür, dass er nichts sagte. Ich wollte ihn auswringen, damit die Worte aus ihm herausflossen, nichts ist schlimmer als Ungewissheit.
»Er ist krank«, sagte Claas schließlich. »Ich war bei ihm … Er fiebert, Lovis, seit heute Nacht. Sie haben ihn jetzt auf Antibiose, auf gut Glück, man muss erst sehen, was für ein Keim das ist, das Labor dauert … Er bekommt wohl schlecht Luft. Die Lunge ist angegriffen … das passiert leicht bei Patienten, die lange liegen …«
»Ach so«, sagte ich, erleichtert. »Das ist alles? Fieber … das geht ja weg, das hat man schon mal …«
»Wir müssen entscheiden, ob sie ihn intubieren, wenn es nötig wird«, sagte Claas. Er sagte das sehr leise, als wäre es ein furchtbarer Satz, aber ich verstand nicht, was furchtbar daran war.
»Na ja, natürlich«, antwortete ich. »Müssen wir irgendwas unterschreiben? Geht es um ein Papier? Notfalls müssen sie ihn intubieren, das ist ja klar, wenn er selbst nicht atmen kann …«
»Wenn jemand«, sagte Claas, noch leiser, »wenn jemand intubiert wird, ist es sehr schwer, ihn wieder zu extubieren. Wenn es nicht besser wird. Rechtlich gesehen, meine ich. Rechtlich gesehen ist es sehr schwer.« Er sah mich nicht an, er sah seine Zigarette an.
»Warum sollte man jemanden extubieren, wenn es ihm nicht bessergeht?«
»Wenn es … wenn es jemandem gar nicht bessergeht … sehr lange Zeit oder … nie …«
»Jemandem«, sagte ich, etwas zu laut. »David.«
»Ja. Lovis … niemand weiß, was in Davids Gehirn los ist nach dem Unfall. Es sind nicht nur seine Beine. Er wird womöglich … wahrscheinlich … nie wieder so sein, wie er war …«
»Gut, vielleicht erinnert er sich an nichts«, sagte ich gereizt. Und ich duckte mich
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