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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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tief hinter meine Mauer, ein Bollwerk, ein Verteidigungswall. »Na und? Was soll das Ganze? Worauf willst du hinaus?«
    »Vielleicht erinnert er sich nicht einmal mehr, wie man seine Arme bewegt. Wie man spricht.«
    »Quatsch.«
    »Vielleicht erinnert sich sein Gehirn an gar nichts mehr. Vielleicht vergisst es sogar, wie man atmet. Dann müsste er intubiert bleiben, bis …«
    »Bis er sich eben wieder erinnert!«, rief ich und merkte, dass ich aufgesprungen war. »Er braucht nur Zeit! Du hast selbst gesagt, niemand weiß, was in seinem Gehirn los ist, man muss abwarten, ihm Zeit geben …«
    »Lovis«, sagte Claas, und ich wünschte mir in diesem Moment, er würde ebenfalls aufspringen, doch er blieb sitzen, die Zigarette zwischen den Fingern. Was er dann sagte, sagte er sehr langsam und sehr ruhig.
    »Lovis. David stirbt. Wenn wir ihn nicht intubieren, machen wir es ihm leichter.«
    Da holte ich aus und schlug ihn ins Gesicht.
    Er ließ die Zigarette fallen, und sie begann, ein Loch in den Lack des Verandatisches zu brennen. Nichts war unwichtiger als ein Verandatisch. Wir starrten uns einen Moment lang an, über den unwichtigen Tisch hinweg. Ich sah, wie die Haut auf Claas’ Wange sich rötete. An seiner Unterlippe erschien ein winziger Tropfen Blut. Er sagte nichts.
    »Du hast ihn ja noch viel mehr aufgegeben, als ich dachte«, flüsterte ich.
    Claas sagte noch immer nichts, und die Zigarette brannte das Loch tiefer in den Lack, und wir starrten uns noch immer an. Ich dachte über Claas’ Augenfarbe nach. Seine Augen waren braun mit kleinen hellen Sprenkeln. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich diese Augen schön gefunden, sie waren das einzig wirklich Schön-Schöne an ihm. Jetzt hasste ich seine Augen. Die Sprenkel waren wie Zigarettenglut. Das Braun war nervtötend ruhig. Gleichgültig. Ich hasste die winzigen Falten um die Augen herum. Ich hasste die Sonnenbräune, die von den Vorjahren übrig geblieben war, von Jahren, in denen wir gemeinsam an Stränden gelegen und durch Felder gewandert waren. Ich hasste die leicht krumme Nase, die ich einmal sympathisch gefunden hatte, ich hasste die Lippen darunter, die mich jetzt anschwiegen, ich hasste die Stirn, hinter der die Erinnerungen an David bereits in einem Sarg versiegelt lagen. Wie konnte er nur. Wie konnte er so ruhig sein.
    »Geh«, sagte ich. »Verlass mein Haus.«
    Es stimmte, auf dem Papier war es meines. »Du wohnst ja sowieso in der Klinik«, sagte ich. »Wir kommen gut ohne dich zurecht, David und ich, wenn er zurückkommt, wohnen wir zu zweit hier.«
    Claas nickte. Er nickte noch langsamer, als er die Worte gesagt hatte, die er nie hätte sagen dürfen.
    Dann stand er auf. Endlich.
    »Nimm dein Joghurtglas mit«, sagte ich. Meine Stimme war kalt, ich hasste diese Stimme, aber ich konnte nichts an ihrer Kälte ändern.
    Claas nickte wieder. Er nahm das Joghurtglas mit den Kippen, ging durch die Verandatür, durch die Küche, durch den Flur, zur Vordertür. Er nahm seine Windjacke, die neben der Tür hing, und die Tasche, die er jeden Tag zur Klinik mitnahm. Dann öffnete er die Vordertür und sah sich noch einmal um. Ich war ihm bis in den Flur gefolgt.
    »Sag es nicht«, warnte ich. »Was immer du sagen willst.«
    »Ich wollte nur deinen Namen sagen«, sagte Claas.
    »Lass es«, erwiderte ich. »Du hast mit meinem Namen nichts mehr zu tun. Du hast deinen eigenen Namen. Auch deinen eigenen Nachnamen. Nimm ihn und geh.«
    Da ging er.
    Er drehte sich nicht noch einmal um. Er stieg in sein Auto, einen schwarzen Landrover – Leichenwagen, dachte ich –, startete den Motor und fuhr die Pflastersteinstraße entlang, an der Feldsteinkirche vorbei, bog auf die Durchfahrtsstraße ab und war fort. Ich stand sehr lange in der Haustür wie versteinert.
    Erst, als ich ganz sicher war, dass Claas nicht – oder nicht bald – zurückkäme, setzte ich mich auf die Stufen zwischen den Kastanienbäumen, deren Blütenkerzen schon herunterbrannten, und gestattete mir, zu heulen.

    Ich rief auf der Intensivstation an und sagte dem Arzt, der abhob, dass sie natürlich intubieren sollten, wenn es nötig wurde.
    »Natürlich«, sagte der Arzt.
    »Samstag?«, fragte ich. »Sind Sie das?«
    »Ja«, sagte er. »Aber wir duzen uns doch.«
    »Thorsten«, sagte ich.
    »Lovis«, sagte er.
    »Claas hat gesagt, David stirbt.«
    »Alle Menschen sterben. Irgendwann. Das habe ich schon einmal gesagt. Müssen wir am Telefon darüber sprechen?«
    »Nein«, sagte ich und

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