Paradies
ist doch im Krankenhaus, warum habt ihr nicht nach ihr gesehen, warum habt ihr sie hier liegen und sterben lassen, ihr Teufel, ihr Teufel…«
Jemand hielt sie fest, und sie schlug um sich und schrie. Sie wollten sie von Großmutter trennen, sie wollten noch mehr zerstören, sie würden sie nicht bekommen.
»Lasst mich in Ruhe, lasst mich zu ihr, ihr habt sie sterben lassen, ich will mich um sie kümmern…«
Die Gesichter glitten vorbei, sie wollte sie nic ht sehen, warf sich nach hinten, sie schrien sie an, Annika! Als Antwort brüllte sie und weigerte sich, ihnen zuzuhören, sie weigerte sich, auf sie zu hören.
»Verdammte Mörder«, schrie sie, »ihr habt sie einfach sterben lassen!«
Sie pressten Annika auf eine Liege und hielten sie fest. Jetzt würden sie sich auch auf sie stürzen, und sie schrie und wehrte sich.
»Wir brauchen etwas zur Beruhigung«, sagten die Stimmen. »Wir müssen ihr Sobril geben…«
Plötzlich konnte sie nicht mehr und sank auf die Liege. Die Trauer erstickte sie, das Licht verschwand, sie konnte nicht mehr schreien, bekam keine Wärme, keine Luft mehr, schnappte nach Luft, atmete, atmete, jemand schrie, sie hyperventiliert, wir brauchen eine Tüte, Nebel, Nebel, Dunkelheit.
Ihre Mutter saß neben ihr. Der Nerzmantel hing über einem zweiten Stuhl. Annika lag auf der harten Liege. Sie hatte Tabletten bekommen, der Raum war ihr entglitten und schwankend versunken. Sie blickte zum Fenster hinaus. Draußen war es vollkommen schwarz.
Ich weiß nicht, wie viel Uhr es ist, dachte sie.
Ihre Großmutter lag still und weiß in ihrem Bett. Zwei Kerzen brannten im Zimmer, eine an jeder Seite des Bettes, und beschrieben zwei goldene Zirkel in der Dunkelheit.
Annika setzte sich auf. Ihre Mutter weinte.
»Ich bin nicht mehr rechtzeitig gekommen«, schluchzte Barbro.
»Sie haben angerufen, und Mama war schon tot, als ich kam. Sie ist im Schlaf gestorben, es war sicher sehr friedlich.«
Annika hatte das Gefühl, das Zimmer schwanke wie bei hohem Seegang, sie hatte einen trockenen Mund.
»Das kann das Personal doch gar nicht wissen«, sagte sie. »Ich habe sie gefunden. Die Kerzen haben hier nichts zu suchen.«
Annika stand auf, machte einen Schritt ins Zimmer, schwankte, wollte zu ihrer Großmutter, wollte die Kerzen wegnehmen, den Tod, und Leben in sie schütteln.
Ihre Mutter stand auf und hielt sie fest.
»Setz dich. Mach diesen Augenblick nicht kaputt. Lass uns auf ruhige und würdige Art Abschied nehmen.«
Sie führte Annika zur Liege zurück.
»Es war besser so«, meinte ihre Mutter und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sofia hätte nie wieder ein anständiges Leben führen können. Sie ist doch immer so gern im Wald spazieren gegangen, und jetzt musste sie hier wie ein Bündel liegen. Das hätte sie nicht gewollt.«
Annika saß auf der Liege. Es fiel ihr schwer, die Balance zu halten.
Sie sah ihre Mutter nach unten sinken und dann wieder schaukelnd hochsteigen.
»Die haben sie umgebracht«, sagte Annika.
»Hör auf, solchen Blödsinn zu reden«, erwiderte ihre Mutter. »Es ist zu einer weiteren Blutung gekommen, sagen die Ärzte, vermutlich an der gleichen Stelle. Sie konnten nichts mehr für sie tun.«
Annika sah ihre Großmutter an, die Liebe, die Kraft, den Halt, sie war so klein, so weiß, so dünn. Bald würde sie für immer fort sein.
Jetzt war sie allein.
»Wie soll ich nur zurechtkommen?«, flüsterte sie.
Ihre Mutter stand auf, ging zu der Toten und blickte in das alte Gesicht.
»Sie hatte auch ihre Macken«, sagte Barbro. »Sie konnte ungerecht sein und streng urteilen, aber jetzt, da sie nicht mehr ist, sollte man über diese Dinge hinwegsehen. Wir werden uns an die guten Zeiten erinnern.«
Annika wollte gern etwas erwidern, fand aber nicht die passenden Worte in ihren Gedanken und wollte keine Plattitüden von sich geben. Sie hatte nicht die Kraft, das Spiel ihrer Mutter mitzuspielen. Stattdessen blieb sie schweigend sitzen und starrte auf ihre Hände hinab. Sie erinnerte sich an das Gefühl der kalten Haut, des toten Kopfes, und steckte ihre Hand in die Wärme ihrer Achselhöhle.
»Sie hatte Fehler«, fuhr Barbro fort, »aber die haben wir ja alle. Ich wünschte mir immer eine Mama, die für mich da war und sich um mich kümmerte. Alle anderen Mädchen hatten so eine Mama, als ich klein war.«
Annika antwortete nicht und versuchte, nicht hinzuhören. Ihre Mutter sprach eher an sich selbst gewandt weiter.
»Aber seine Mama liebt man
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