Paradies
jetzt fortbringen. Brauchen Sie Hilfe, um nach Hause zu kommen?«
»Sofia Katarina«, flüsterte Annika. »Ich bin nach ihr getauft worden. Ich heiße Annika Sofia.«
»Annika Sofia«, sagte die Ärztin, »jetzt müssen Sie gut auf sich Acht geben.«
Annika blickte zu der Frau auf, die unmittelbar neben ihr saß und doch so weit weg war.
Sie antwortete nicht.
TEIL 3
DEZEMBER
Die Scham ist das Schlimmste
Wir können über alles sprechen, nur nicht über das, wofür wir uns am meisten schämen. Andere Gefühle, auch die negativsten, können wir mit anderen teilen und aussprechen, aber niemals die Scham. Das liegt in ihrer Natur. Die Scham ist unser größtes Geheimnis, ist an sich schon eine Strafe.
Die Scham gewährt keine Gnade. Alles andere kann verziehen werden: Gewalt, Bösartigkeit, Ungerechtigkeit, Schuld, aber für das Beschämendste gibt es keine Absolution.
Bei mir sind Schuld und Scham untrennbar miteinander verbunden. Das ist normal, aber nicht die Regel. Ich habe einen Verrat begangen. Alles, was ich in den letzten Jahren getan habe, ist ein Versuch gewesen, meine Feigheit zu sühnen. Deshalb ist die Schuld trotz allem eine kreative Kraft, sie mahnt zur Handlung und zur Rache.
Mit meiner Scham werde ich nicht fertig. Gemeinsam mit der Gewalt zerstört sie mich. Sie wächst nicht und sie schrumpft nicht, aber sie liegt wie eine bösartige Geschwulst in den tiefsten Schichten meines Bewusstseins.
Auf den richtigen Augenblick wartend.
Aushöhlend.
MONTAG, 3. DEZEMBER
Der schwarz gekleidete Mann landete lautlos auf dem Bahnsteig.
Seine Knie federten den Sprung ab, die Gummisohlen unter seinen Schuhen verschluckten die restlichen Geräusche. Er atmete tief durch und sah sich um. Er war der Einzige, der hier ausstieg.
Schnell drehte er sich um und drückte die Tür wieder zu. Er wollte nicht, dass jemand seinen Abgang bemerkte.
Die Luft war frisch und kalt, und ein Gefühl des Triumphs erfüllte seine Brust.
Ratko war nach Schweden zurückgekehrt. Alles war genauso abgelaufen, wie er es geplant hatte. Es kam eben nur darauf an, den richtigen Drive im Körper zu haben, einen unbeugsamen Willen und die nötige Kompromisslosigkeit. Sie hatten gedacht, sie wüssten, woran sie mit ihm wären und dass sie ihn unter Kontrolle hätten.
Von wegen.
Der Schaffner öffnete eine Tür im vorderen Zugteil, und er bewegte sich lautlos und nicht besonders schnell in Richtung Bahnhofsgebäude, ein nächtlicher Spaziergänger auf dem Bahnhof im südschwedischen Nässjö, eine rastlose Seele.
Er warf einen Blick auf die Uhr, 3.48, der Zug war fast pünktlich gewesen.
Als er um die Ecke des Bahnhofsgebäudes bog, warf er einen Blick über die Schulter. Der Schaffner wandte ihm den Rücken zu und schenkte ihm keinerlei Beachtung. Warum sollte er auch?
Er ging auf die schlafende Stadt zu, während alle annahmen, dass der norwegische Staatsbürger Runar Aakre weiterhin in seinem Liegewagenabteil nach Stockholm schlief.
Er schritt die Hauptstraße hinab. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Plötzlich wurde er unruhig, vielleicht war doch etwas schief gegangen, er durfte sich auf keinen Fall zu früh freuen, alles Mögliche konnte mit dem Auto passiert sein. Vielleicht war es gestohlen worden, eingefroren, oder die Batterie war leer.
Den Teufel an die Wand zu malen ist jetzt wirklich das Letzte, was ich gebrauchen kann, dachte er gereizt.
Er überquerte den Stortorget und fror bereits. Er hatte noch einen langen und kalten Spaziergang vor sich.
Vor dem Kulturzentrum auf der Rådhusgatan stand eine ganze Reihe von Fahrrädern. Er sah sie rasch durch und fand tatsächlich ein Damenrad, das nicht abgeschlossen war.
Es würde so zwar noch kälter werden, aber dafür nur für kürzere Zeit.
Schnell radelte er nach Norden in Richtung Jönköpingsvägen.
Es war die Hölle. Er hatte Gegenwind, es war glatt und dunkel, und schon nach wenigen Metern geriet er außer Atem.
Bald, dachte er, bald bin ich da.
Die Reise hatte ihm zugesetzt. Der falsche Pass brannte in seiner Tasche. Bei jeder Grenzkontrolle war er nervös geworden, und das nicht ohne Grund.
Er hatte keinen Einfluss mehr, man hatte ihn all seiner Macht beraubt. Er durfte den Nachtklub behalten, aber seine übrigen Privilegien hatte man ihm genommen. So etwas machte sich in einer Stadt wie Belgrad blitzschnell bemerkbar. Der Respekt vor ihm schwand, und seine Frau wollte sich scheiden lassen. Nicht einmal sein Ruf als Kriegsheld nutzte ihm noch. Für
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