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Paradies

Paradies

Titel: Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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er in Stockholm noch ein paar offene Rechnungen zu begleichen. Die Ladung mochte verschwunden sein, aber er war es nicht gewohnt, Dinge nicht zu Ende zu bringen. Er ließ das Auto langsam in die Nacht hinausrollen.
    Die Adventssterne im Fenster der Gästewohnung hingen schief.
    Eine Frau von der Baufirma war letzten Freitag dort herumgeklettert und hatte dekoriert und geschmückt. Annika starrte die Strohsterne an, die ein wenig in der warmen Luft schaukelten, die von den Elektroheizkörpern aufstieg. Sie wunderte sich über die Fähigkeit des Menschen, sich mit solch sinnlosen Dingen zu beschäftigen und Zeit und Energie auf eine Weihnachtsdekoration zu verschwenden.
    Sie legte sich wieder hin, starrte die Wand an und konzentrierte sich auf das Muster hinter der dünnen Farbschicht, lila Medaillons. Das Hinterhaus war verlassen, nur der arbeitslose Hardrocker im Erdgeschoss war zu Hause. Sie schloss die Augen, ließ die Bassläufe in ihrem Körper vibrieren.
    So geht es nicht weiter, dachte sie. Ich kann so nicht weitermachen.
    Sie drehte sich auf den Rücken, starrte an die Decke, sah die Spinnweben im Luftzug schweben, der durch die zerbrochene Fensterscheibe im Wohnzimmer kam. Ihr Blick folgte den Rissen, fand den Schmetterling im Muster, das Auto, den Totenschädel.
    Der Einsamkeitston erklang in ihrem linken Ohr. Sie warf sich wieder auf die Seite und legte sich das Kissen auf den Kopf, konnte ihm aber nicht entgehen, niemals, konnte sich nie verbergen. Verzweiflung ergriff sie. Ihr Körper zog sich zusammen und wurde zu einem harten Ball, ihr Kopf fiel nach hinten, sie hörte das Geräusch, ihre eigenen Laute, das hemmungslose Weinen. Sie kannte es schon und bekam keine Angst mehr. Die Tränen zerrissen sie, aber sie wusste, dass es wieder aufhören würde, denn der Körper konnte es nicht endlos aushalten.
    Hinterher war sie matt, durstig und mitgenommen von der Anstrengung. Die Schmerzen im Rücken waren am schlimmsten und verschwanden niemals ganz, ebenso wenig wie das anhaltende Spannen im Bauch. Sie blieb noch eine Weile schwer und schluchzend liegen und ließ die Tränen auf den Wangen trocknen.
    Ich frage mich, was die Nachbarn von mir denken. Vielleicht glauben sie, dass ich allmählich verrückt werde.
    Sie stand auf. Ihr war schwindlig, und sie hielt sich auf dem Weg in die Küche in der Nähe der Wand. Die Strohsterne schaukelten.
    Der Wasserhahn tropfte. Der Kühlschrank war leer.
    Sie setzte sich an den Küchentisch, ließ die Arme auf die kalte Tischplatte fallen, legte den Kopf in die Hände und starrte den Messingkerzenständer ihrer Großmutter an. Er war ein Hochzeitsgeschenk, das Sofia Katarina und Arvid bekommen hatten, als sie heirateten. Der Kerzenständer hatte, solange sie denken konnte, in Lyckebo auf dem Büfett gestanden.
    Annika schloss die Augen. Ihre Großmutter war nicht mehr da.
    An die Beerdigung konnte sie sich kaum erinnern, nur an die Verzweiflung, die Tränen, die Hilflosigkeit. Es waren recht viele Leute gekommen, starrende Augen, Flüstern, vorwurfsvolle Blicke.
    Staub bist du gewesen…
    Sie stand auf und ging zur Couch im Wohnzimmer. Eine Staubwolke stieg auf, als sie sich setzte. Sie betrachtete das Telefon. Birgitta hatte sie nach der Beerdigung angerufen und gefragt, warum sie so gemein zu ihrer Mutter gewesen sei.
    »Könnt ihr denn niemals Ruhe geben?«, hatte Annika geschrien.
    »Ist es nicht bald genug? Wie sehr soll ich denn noch dafür bestraft werden, dass mich jemand geliebt hat? Wann seid ihr endlich zufrieden? Wenn ich tot bin?«
    »Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank«, hatte Birgitta erwidert. »Die Leute haben wirklich Recht. Du Ärmste.«
    Ihre Großmutter hatte praktisch nichts besessen, aber um das Wenige, was es gab, musste es natürlich Streit geben. Annika hatte darum gebeten, den Kerzenständer zu bekommen, den Rest konnten sie behalten.
    Sie zog die Beine hoch und wiegte sich lange, das Fenster mit der Plastiktüte stieg und sank, stieg und sank.
    Thomas hatte nicht angerufen, nicht ein einziges Mal. Jene Nacht hatte es nie gegeben, das berauschende Gefühl war die Erinnerung an einen Traum. Sie weinte still über die Liebe, aus der nichts wurde, und schaukelte weiter. Montag, der fünfte November, das war ihr Tag, ihre Nacht gewesen, die entschwundene Nacht, das war jetzt achtundzwanzig Tage her. Sie war einen Monat älter geworden, es war siebenundzwanzig Tage her, dass Großmutter gestorben war, sie war siebenundzwanzig Jahre

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