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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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Großmutter ist dick. Sie stopft so ziemlich alles in sich rein, was ihr unter die Finger kommt. Nicht selten erwischen wir sie, wie sie heimlich in der Küche Torte isst. Uns den gebückten Rücken zugewendet, mampft sie. Wenn sie uns bemerkt, erschrickt sie und erstarrt. Den offenen Mund voller Sahne. Und wenn wir sie tadeln, dass das ungesund ist für Diabetiker, wird sie von einer Sekunde auf die andere böse und keift: »Ihr Geizhälse gönnt mir das nicht. Ihr wollt alles alleine essen!« Bei so einer blöden Ausrede muss ich unwillkürlich lachen.
    Bis zu meinem 12. Lebensjahr lebte ich bei den Großeltern. Meine Mutter arbeitete von morgens bis abends in der »Oficína«, und sie schaffte es nicht, mich alleine zu versorgen. Ich lebte sehr gerne bei ihnen. Sie waren für mich wie richtige Eltern, hatten viel Zeit und Liebe übrig, und ich fühlte mich unbeschwert und glücklich.
    Der weiße Pudel Ben zerkaut die Knochen des Huhns. Die Großeltern streiten jedes Mal, wenn Ben, ihr Liebling, Hühnerknochen bekommt. Oma ist dagegen, sie seien gefährlich, könnten ihm im Hals stecken bleiben, Opa ist dafür. Er findet es albern. Seiner Meinung nach ist ein Hund, der keine Hühnerknochen fressen kann, kein Hund.
    Ich habe Ben vor Jahren als Weihnachtsgeschenk unter dem Baum gefunden. Natürlich kümmerte ich mich nicht um ihn, wie jedes Kind, wenn es ein Tier geschenkt bekommt. Ben blieb Opa am Hals. Seitdem sind Ben und Großvater ein unzertrennliches Paar mit eigenen Gesetzen. Kein Mensch versteht sie. Keiner darf sich einmischen. Zum Beispiel, wenn es um Opas Jogginghose geht. Ben bewacht sie in der Nacht. Sobald sich Großvater hinlegt und die olle Jogginghose neben dem Ehebett auf den Boden wirft, sodass sie wie ein Haufen blauer zusammengeknüllter Putzlappen aussieht, passieren eigenartige Dinge. Von diesem Moment an ist dieses Areal von ungefähr zwei Metern Durchmesser eine Tabuzone. Für jeden. Großmutter muss von der anderen Seite ins Bett steigen, sonst geht es ihr an den Kragen. Auch den restlichen Familienmitgliedern macht Ben unmissverständlich klar: »Wage noch einen Schritt und ich zerfleische dich!«
    Nur Großvater darf sie morgens, nach dem Aufstehen, in die Hand nehmen und erneut anziehen. Wir lachen jedes Mal, wenn Ben diese »Pisshose« so ernsthaft bewacht, wie andere Hunde Bauernhöfe, Herden oder Panzerschränke bewachen.
    Oma und Opa umarmen uns ganz innig. »Hast die Einkaufsliste eingesteckt, Nadi?«, fragt Oma mit glühenden Backen.
    »Ja, Oma«, antwortet meine Mutter. Sie schluchzt beinahe und steckt mich damit an.
    »Heult doch nicht. Wir sehen uns doch wieder«, ruft Opa dazwischen.
    »Natürlich, natürlich«, sagt meine arme Mama leise.
    »Wenn sie keinen gezuckerten Kakao haben, kaufe auch einen ohne Zucker.«
    »Keine Sorge, ich denke, die haben beides, Oma.«
    »Gut, dann kauf lieber den mit Zucker.«
    »Ja, Oma.«
    Wir trennen uns widerstrebend von ihnen und gehen. Meine Mutter kneift die Augen fest zusammen, das ganze Gesicht ist zerknautscht. Sie dreht sich auch nicht mehr um, als uns Oma aus dem Fenster nachwinkt.
    »Den Kakao schicke ich dir, Mutter«, sagt sie leise zu sich.

REIHENHAUSIDYLLE AM RANDE DES NERVENZUSAMMENBRUCHS
    Zuhause angekommen, greift meine Mutter nach dem Telefonhörer und ruft ihren Bruder an.
    »Ahoj, Jaro, ich brauche die Adresse von Ivana und Olin … Weil wir sie besuchen möchten … Ja, ich höre.« Sie notiert. »Und wo liegt Aalen? … Hm, bei Stuttgart. Aha … Und weiter? Deutschland. Ach, das weiß ich doch, dass es in Deutschland liegt, Jarku.«
    Mein Onkel Jarek weiß von der geplanten Emigration. Es ist eine Erleichterung, einen Menschen zu wissen, der uns beisteht, unseren Entschluss nicht verurteilt und vor allem einen kühlen Kopf behält.
    Deutschland, Aalen, deutsch, deutsch, Aalen! Diese Wörter bewirken bei mir Schweißausbrüche! Deutschland – für mich fremd wie der Nordpol. Ich male mir im Kopf oft Deutschland aus, als eine bunte, nach Seife riechende Reklamewelt. Die Menschen, größtenteils Männer. Rocker. Lautes Sprechorgan. Motorradfahrer. Das ist für mich Deutschland. Warum will ich dahin, wenn mir nur Horrorvorstellungen im Kopf herumkreisen? Ich denke an die Freiheit, die absolute Freiheit und Anonymität. Dort kann man tun und lassen, was man will. Dort kann man alle Träume ausleben, alles kaufen. Man wird in Ruhe gelassen, und viel Geld verdient man noch dazu. Dort fällt man nicht auf, und gleichzeitig hat

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